© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 13/07 23. März 2007

In seinen Epochen meistens vorbildhaft
Fernab der hiesigen überkritischen Bauchnabelschau präsentiert Christopher Clark ein überraschend positives Preußenbild
Harald Seubert

Lange ehe es ein deutscher Staat wurde, sei Preußen ein europäischer Staat gewesen: So lautet eine der zentralen Thesen in Christopher Clarks magistralem Preußen-Buch. Die Schlußfolgerung: Deutschland sei Preußens Verderben gewesen, keinesfalls seine Erfüllung.

Als höchst fruchtbar erweist sich die perspektivische Einsicht, daß die Geschichte Preußens unlösbar sei von der Geschichte der Geschichten über Preußen, seiner jeweiligen Wahrnehmung.

Christopher Clarks Werk ist die veritable Antwort zum 60. Jahrestag jenes Artikels Nr. 46 des Alliierten Kontrollrats, es ist der Kommentar eines namhaften Historikers der jüngeren Generation, in Cambridge lehrend und australischer Herkunft, dessen Blick von allem Ballast frei ist, wie er der deutschen Bauchnabelperspektive auf Preußen eignet. Aufstieg und Niedergang Preußens möchte Clark sichtbar machen, die Kräfte, die Preußen geformt und zerstört haben. Einen, und sei es noch so abwägenden, moralischen Blick weist er von Anfang an zurück.

Um es vorweg zu sagen: Clarks Buch ist ein großer, souveräner Wurf aus bester Tradition angelsächsischer Geschichtsschreibung. Besonders überzeugend ist es, wie souverän er ereignisgeschichtliche, biographische und strukturgeschichtliche Elemente zu einem Gesamtpanorama verbindet. Er hat ein untrügliches Gespür für Quellen, die exemplarische Einzelschicksale vor Augen führen wie jenes des Hofgelehrten und -narren bei Friedrich Wilhelm I., Jacob Paul von Gundling. Doch die Versenkung ins Detail bleibt stets in der stimmigen Proportion.

Clarks Geschichte Preußens beginnt im märkischen Sand. Sie nimmt ihren Ausgang bei den Verheerungen des Dreißigjährigen Krieges. Der weiter ausgreifende Horizont des deutschen Ordenslandes bleibt ganz ausgeblendet. Subtil werden Chancen und Risiken des neuen Staates ausgelotet. Für die Genese des Staates, das Verhältnis von Herzog und Landständen bis hin zur Krönung Friedrichs I. 1701, und ihre gezielte Symbolik zeigt Clark eine besonders hohe Sensibilität. Ohne seine großen Herrscherpersönlichkeiten wäre der Aufstieg des Hauses Hohenzollern nicht denkbar. Clark hebt die sich bis zu Friedrich II. von Generation zu Generation verschärfenden Vater/Sohn-Konflikte besonders hervor. Auf diese Weise gewinnen idealtypisch zwei Herrschertypen Profil: der an seine Pflicht verlorene asketische "Workaholic" und der barocke Kulturfürst. In den größten Exponenten wie Friedrich II. wurde diese Typologie erkannt und transzendiert; er brachte die besten Momente beider Seiten in eine spannungsreiche Einheit. Immer wieder wurden in der Historiographie die "vielen Gesichter" Preußens hervorgehoben - zumindest aber, seit der Madame de Stael, sein "Januskopf", Militär- und Verwaltungsstaat ebenso zu sein wie Kulturstaat.

Clarks Porträt Preußens besticht indessen dadurch, daß es die übergreifenden Kontinuitäten, in der balancierten Außenpolitik (manifest in den "Testamenten" der Hohenzollern), in Heer und Verwaltung wie Leitmotive herausarbeitet. Man gewinnt den Eindruck, daß sich Preußen zumindest bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts stets zur eigenen Kenntlichkeit veränderte. Dieser großflächige Blick ist überzeugend, weil dramatische Umbrüche zwischen den einzelnen Regierungszeiten deshalb nicht unterbelichtet werden. Des Soldatenkönigs Neigung zu den "Stillen im Lande", zu Francke und Spener, wird zu Recht als eine "Kulturrevolution" bezeichnet; ebenso, wenn auch ohne den Pietismus undenkbar, könnte man die Genese des Zeitalters der Aufklärung unter Friedrich II. überschreiben, der eines der glanzvollsten Kapitel des Bandes, betitelt mit Kants Wahr- und Wahlspruch der Aufklärung: "Sapere aude!", gewidmet ist.

Clarks Darstellung der Stein-Hardenbergschen Reformen ist pointiert und hochinteressant: Er arbeitet heraus, daß das Reformwerk diesseits des fast mythischen Nimbus einer Revolution von oben, der es umgibt, unterschiedliche, einander durchkreuzende Zielsetzungen in sich vereint. Gerade darin kann es Clark als eine erstrangige Quelle für die vielgestaltigen Lebenswirklichkeiten im post-friderizianischen Preußen deuten; und nicht zuletzt führt bei aller tatsächlichen Fragmentiertheit die Rhetorik des Reformwerkes ein Eigenleben. Es erweist sich als ein Akt der Kommunikation mit plebiszitären Appellen; wobei das altpreußische Ethos nach wie vor hochgehalten wurde, auch wenn es dem Freiherrn vom und zum Stein nähergelegen haben mochte als Hardenberg.

Es ist nicht zu verschweigen, daß die aufsteigende Linie der Geschichte besser gelungen und gründlicher entfaltet scheint als die absteigende. Das Porträt Friedrich Wilhelms IV. etwa, des "Romantikers auf dem Königsthron", bleibt weit hinter den einschlägigen Standardwerken von Walter Bußmann und Frank-Lothar Kroll zurück. Bismarck wird zwar als post-romantischer Staatsmann und Gleichgewichtspolitiker gewürdigt. Bismarcks Skrupel, seine sehr preußischen Nachtträume über die "Grenzen der Politik" kommen aber entschieden zu kurz, obwohl gerade sie Clarks Beweisführung untermauern könnten.

Und wie überzeugend ist schließlich die These, daß Deutschland Preußens Verhängnis geworden sei? Daß das Zeitalter des Nationalismus und der bürgerlichen Revolutionen Preußens Staatsidee aushöhlte und daß sich Friedrich Wilhelm IV., am Ende seiner Regierungszeit aber auch Bismarck als Anachronismen erwiesen, wird von Clark gezeigt. Der tieferen Frage nach dem Verhältnis von Preußentum und Moderne, nach verspielten oder gar nicht mehr vorhandenen Möglichkeiten einer Transformierung der preußischen Essenz in jene Konstellationen, die das 20. Jahrhundert vorbereiten, müßte aber überhaupt erst nachgegangen werden.

Die "Engführung" auf Preußens "deutsches Verhängnis" bleibt so lange unzureichend, als nicht auch umgekehrt erwogen wird, inwiefern die preußischen Lehrstücke nicht zumindest im Bismarck-Reich deutsche Politik prägten - und dies keinesfalls zu dessen Nachteil. Man wird Clark hingegen gerne zustimmen, wenn er Franz von Papens Preußenschlag 1932 und erst recht den "Tag von Potsdam" ein Jahr später als Liquidation Preußens begreift. Nationalsozialistische Propaganda höhlte das Preußentum aus, seine geistlose Abstraktion durch die NS-Propagandisten lebte bei den alliierten "Exorzisten" fort, die mit ihrem Artikel 46 in einer geradezu grotesken Weise Preußen verfehlten. Daß die große preußische Tradition im Widerstand des 20. Juli, insbesondere auch in einer Gestalt wie Dietrich Bonhoeffer, fortlebte, dies zeigt auch Clark. Reinhold Schneiders und nach ihm Hans Joachim Schoeps' einschlägige Reminiszenzen sind indessen ungleich plastischer. Man mag an dieser Stelle eine Grenze des Blickes von außen konstatieren.

Am Ende scheint Clarks Blick zurück zu den brandenburgischen Kernlanden zu führen. Hier läßt er endlich Fontane zu Wort kommen, mit den "Wanderungen durch die Mark Brandenburg". Dem Vernehmen nach ließ Clark bei der Buchpräsentation eine andere Erwägung in den Vordergrund treten: Preußen als ein Modell in der Krise der offenen Gesellschaft und angesichts des Ungenügens, das die "cold projects" des Neoliberalismus und Thatcherismus zurücklassen. Dies würde auf die "preußische Staatsidee" zurückführen: Man darf sich vielleicht von Clark einen großen Essay wünschen, in dem er dieses Fazit - und wohl auch Movens - seines großen Preußenbuches darlegt. Es wäre ein wichtiger Beitrag für das gegenwärtige Deutschland und Europa.

Blinde Stellen wird man vor allem im Feld der Ideen- und Kulturgeschichte finden. Dies ist eine gewisse Misere, wenn Preußen doch nach dem Wort Wilhelm von Humboldts mehr als ein Staat gewesen ist, nämlich eine Idee. Allzuwenig erfährt man über Baukunst und bildende Kunst, über die großartige Potenz Preußens auf diesen Sektoren zwischen preußischem Barock und Klassizismus. Ideengeschichtlich ist Clark für die Dauer des 18. Jahrhunderts ein verläßlicher Begleiter: für das Aufklärungsjahrhundert einschließlich des Pietismus. Schon für Denker, die im Schatten Kants ihre epochale Wirkung entfalteten, wie für Hamann oder Herder fehlen die Kategorien. Was zu Fichte ausgeführt wird, bleibt banal; die ungeheure Wirkung seiner "Reden" erschließt sich nicht, ebensowenig die Bedeutung, die Geist und Kultur in Preußens Niederlage annahm; und Hegel wird auf den bloßen "Hegelianismus" reduziert. Die Ahnung, daß Hegels Philosophie dem preußischen Staatsbegriff kongenial sei, bleibt daher merkwürdig blaß.

Zu Recht hat Clark in Rezensionen der angelsächsischen Welt höchstes Lob erfahren. Sein auch in der vorzüglichen deutschen Übersetzung durchgehend brillant geschriebenes Buch setzt Maßstäbe, hinter die die Diskussion um Preußen nicht zurückfallen darf. Ein Irrtum wäre es aber, längst klassisch gewordene ältere Preußen-Literatur durch Clark gleichsam für "aufgehoben" zu halten. Zumal an Hans-Joachim Schoeps bleibt in diesem Zusammenhang zu erinnern, dessen hohe geistes- und religionsgeschichtliche Kompetenz in mannigfacher Hinsicht eine unerläßliche Ergänzung zu Clark bedeutet. Der deutsche und europäische Blick auf Preußen kann, so bleibt zu hoffen, durch Clark neue Konturen gewinnen. Überflüssig wäre die Anstrengung einer gleichrangigen Gesamtdarstellung aus der deutschen Innenperspektive jedoch in keinem Fall.

Christopher Clark: Preußen. Aufstieg und Niedergang. 1600-1947. Deutsche Verlags-Anstalt, München 2007, gebunden, 896 Seiten, Abbildungen, 39,95 Euro

 

Prof. Dr. Harald Seubert lehrt Philosophie an den Universitäten Halle-Wittenberg, Erlangen-Nürnberg und Posen.

Foto: Eduard Gaertner, Ansicht der Rückfront der Häuser an der Schloßfreiheit (Öl auf Leinwand, 1855): Preußens Aufstieg aus den Verheerungen des Dreißigjährigen Krieges


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