© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 13/07 23. März 2007

Das Capri von Pommern
Längst ist der Glanz erlauchter Namen erloschen: Eine unüberbietbare Chronik der "Künstlerkolonie" Hiddensee
Jens Schultz

Nach Hiddensee reist man am besten im September und Oktober. Zu dieser Jahreszeit geht es auf der Insel, die an Juli- und Augustwochenenden wie eine Verlängerung des Kurfürstendamms wirkt, entschieden gemächlicher zu.

An den Attraktionspunkten des nördlichen Zipfels, dem Dornbusch mit Steilküste und Leuchtturm, ist sogar ein Anflug von Einsamkeit zu finden. Ungestört besichtigt man dort Gerhart Hauptmanns Haus. Wie in keinem anderen musealen Dichterheim in deutschen Landen betritt der Besucher in diesen bescheidenen Räumlichkeiten einen Zeittunnel. Das Radio im Entree, die kargen Schlafgemache, die hinter Glas präsentierte, vom Krieg scheinbar unberührte Korrespondenz mit seinen Weinlieferanten aus dem Sommer 1944 - nie ist das Gefühl abzuschütteln, der Hausherr würde einen sogleich willkommen heißen.

Diese Präsenz des Versunkenen ist auf Hiddensee allein noch in Hauptmanns Sommerdomizil zu spüren. Ansonsten ist vom "Glanz erlauchter Namen" (Ilse Molzahn), vom Zauber des einstigen, auf drei Fischerdörfer verteilten Künstler-Dorados nichts geblieben. Hiddensee ist auch keine Künstlerkolonie mehr, ungeachtet der vielen "Sommergalerien" in Kloster, die bestenfalls solides Kunsthandwerk offerieren. Insoweit ist ein Kapitel der Inselgeschichte abgeschlossen, und es ist also dämmerig genug für den Flug von Minervas Eule, deren Aufgabe die Mecklenburgerin Ruth Negendanck nun übernommen hat.

Hinreichend ausgewiesen war die am Nürnberger Germanischen Nationalmuseum tätige Kunsthistorikerin dafür, denn 2001 trat sie bereits mit einer opulent illustrierten Arbeit über die "Künstlerkolonie Ahrenshoop" hervor (JF 21/02).

Negendanck trägt auch hier wieder, chronologisch geordnet, mit Fleiß und Akribie das Material zu Leben und Werk aller bildenden Künstler zusammen, in deren Schaffen die Natur der Ostseeinsel eine Spur hinterließ. Zunächst im Schatten des früher entdeckten Rügen stehend und bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts als malerisches Motiv eher randständig, beginnt Hiddensee um 1900 seine Reize zu entfalten.

Diese relativ späte künstlerische Erschließung erklärt sich aus der Verkehrsferne der Insel. Während die Ostküste Rügens von Göhren bis Stralsund mondänes Badeleben prägte, gab es vor 1895 nicht einmal eine Dampferverbindung zwischen Stralsund und Hiddensee. Der Aufbau einer touristischen Infrastruktur und der Zuzug Berliner Künstler, an ihrer Spitze Oskar Kruse-Lietzenburg und sein Bruder Max Kruse, gingen dann Hand in Hand.

Diese erste "Kolonisation", die der Erste Weltkrieg unterbrach, schildert Negendanck sehr ausführlich. Wie schon im Ahrenshoop-Band läßt dabei die Illustrierung mit fotografischen Dokumenten und farbigen Reproduktionen realistischer bis impressionistischer Gemälde, Aquarelle und Zeichnungen keine Wünsche offen. Was die Autorin jedoch weitgehend vernachlässigt, ist der kulturhistorische Rahmen dieser künstlerischen Landschaftsaneignung. Daß Zivilisationsflucht eine Rolle spielte, daß entlegene Küstenregionen ein Bedürfnis nach "Weltabgeschlossenheit" zu befriedigen versprachen, dies deutet Negendanck nur in Nebensätzen an.

Folglich liefert sie auch kaum einmal eine klassische "Bildinterpretation", die etwa erklärt, warum in der Motivwahl sich Fischer, Netzplätze, Boote einer um so größeren Beliebtheit erfreuten, je weniger Insulaner in diesem Metier ihr Brot verdienten.

Dem kunsthistorischen Laien wird auch nicht erläutert, welchen Wandel es bewirkte, daß einige Expressionisten auf die Insel kamen. Erich Heckel war da und Otto Mueller. Im Vergleich aber mit Nidden, Leba oder der Flensburger Förde waren Expressionisten hier eher Durchzügler. Trotzdem hätte man gern gewußt, warum gerade, wie behauptet, der "Akt in der Landschaft" für diese Stilrichtung zum "Hauptthema" geworden ist.

Ebenso ein wenig im Stich gelassen fühlt sich der Leser im Kapitel über den Stilpluralismus der zwanziger Jahre. Wiederum beschränkt sich Negendanck auf die Aneinanderreihung biographischer Porträts, ebenso zitatenfroh wie kenntnisreich, teilweise aus mündlicher Überlieferung, teilweise aus Privatarchiven schöpfend. Nicht wenige Lebensläufe münden nach 1933 in ein grausames Ende. Der Aktmaler und Porträtist Willy Jaeckel stirbt 1944 in einem Berliner Luftschutzkeller, die Spur der jüdischen Landschaftsmalerin Käthe Loewenthal verliert sich im April 1942 "nach der Deportation" in Polen. Bei diesem unverbundenen Nebeneinander der Biographien beläßt es Negendanck.

Inwieweit das "Capri von Pommern" nach dem Untergang der Weimarer Republik zum "Refugium" für verfolgte Künstler geworden ist, darüber erzählt das Kapitel über "Das Dritte Reich" dann kaum etwas. "Ungemalte Bilder" wie in Emil Noldes weltfernem Seebüll sind hier nicht entstanden. Mit seinen konventionell-realistischen Fischerhäusern wäre Alfred Frank (1884-1945) jedenfalls nie in den Verdacht gekommen, "entartete Kunst" zu produzieren. Verfolgung und Tod trugen ihm sein Untergrund-Engagement für die KPD ein.

Die werktätigen Massen verscheuchten das Exklusive

Als Franks Mitstreiter die "Arbeiter- und Bauernrepublik" errichteten, kürten sie Ahrenshoop zum "Bad der Kulturschaffenden". Hiddensee überließ ihr kleinbürgerliches Ressentiment dem FDGB, damit die werktätigen Massen dort auch den letzten Hauch von Exklusivität verscheuchten. Künstler kamen trotzdem, doch blieb das meiste im provinziellen DDR-Rahmen, von Werner Tübke einmal abgesehen, der bis in die siebziger Jahre häufiger Gast war.

Über den Fotografen Fritz Kühn (1910-1967), dessen Bildband "Licht. Land. Wasser" (1958) die Wahrnehmung des Insellebens und der Boddenlandschaft nachhaltig prägte, hätte man gern mehr erfahren und vor allem mehr als die wenigen hier reproduzierten Aufnahmen gesehen.

Daß seine Bilder der Stimmung von Peter Huchels Naturlyrik entsprechen, wie Negendanck meint, ist nicht zu bestreiten. Daß sie mit ihren scharfen konturierenden Licht-Schatten-Inszenierungen nicht zufällig an Walter Hege, Herbert List oder Walther Frentz erinnern, die die Bilderwelt der dreißiger Jahren formatierten, wäre allerdings ebenfalls mitteilenswert gewesen.

Obwohl sich die Autorin in so auffälliger Weise mit eigenen Deutungen zurückhält, daß der Leser anhand der 250 Abbildungen des Bandes sich seine eigenen Gedanken über das Geheimnis der Anziehungskraft Hiddensees machen muß, ist dies doch das ultimative, an Materialreichtum nicht mehr überbietbare Nachschlagewerk über diese einstige "Künstlerinsel".

Ruth Negendanck: Hiddensee. Die besondere Insel für Künstler. Edition Fischerhuder Kunstbuch, Verlag Atelier im Bauernhaus, Fischerhude 2006, gebunden, 224 Seiten, zahlreiche Abbildungen, 35 Euro

Fotos: Segelboote vor Hiddensee, Leo Klein-Diepold (Öl auf Leinwand): Die Fischerei nahm ab, die Begeisterung der Maler für die See wuchs; Gerhart Hauptmann, Zeichnung von Walter Trier (1924)


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