© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 13/07 23. März 2007

An Umsturz dachte keiner
DDR-Geschichte: Erich Loest berichtet vom vermeintlichen Aufbruchsjahr 1956
Jörg Bernhard Bilke

Die Vorgänge um die Verhaftung einer Diskussionsgruppe von DDR-Intellektuellen 1956/57 in Ost-Berlin, Leipzig, Halle und Jena waren damals in Westdeutschland durchaus bekannt. Nicht nur Gerhard Zwerenz, der als Schüler Ernst Blochs im Sommer 1957 von Leipzig nach West-Berlin fliehen konnte, hat als unmittelbarer Zeuge in Zeitungen und Zeitschriften darüber berichtet, auch die wissenschaftliche Aufarbeitung, so unbefriedigend die Materiallage war, erfolgte wenige Jahre danach durch den Zeithistoriker Martin Jänicke in seinem Buch "Der dritte Weg. Die antistalinistische Opposition gegen Ulbricht seit 1953" (1964).

Heute, ein halbes Jahrhundert später, ist die Quellenlage weitaus günstiger, die Archive von Staat und Partei sind geöffnet und jedem DDR-Forscher zugänglich, und die Aufzeichnungen der Betroffenen über das Jahr 1956 und die Folgen sind seit Walter Jankas Buch "Schwierigkeiten mit der Wahrheit" (1989) in steter Folge veröffentlicht worden. Letzter Stand der wissenschaftlichen Aufarbeitung ist Siegfried Prokops Buch "1956 - DDR am Scheideweg" (2006).

Erich Loests Buch "Prozeßkosten" füllt dennoch eine Lücke: einmal, weil der Autor in seinem autobiographischen Buch "Durch die Erde ein Riß" (1981) immer noch Rücksichten zu nehmen hatte auf einstige Mitangeklagte von 1957/58, die im SED-Staat verblieben waren, und dann auch, weil der zeitliche Abstand eine veränderte Sicht auf die Vorfälle von damals ermöglichte. Erich Loest macht das seinen Lesern dadurch plausibel, daß er über sich bis fast zum Ende des Buches in der dritten Person schreibt. Und drittens muß man dem Autor dankbar sein für die Schilderung des Atmosphärischen dieses Aufbruchsjahrs 1956, das dann doch keins war!

Nach dem XX. Parteitag der KPdSU vom 14. bis 25. Februar 1956, auf dem die Verbrechen der Stalinzeit 1924/53 aufgedeckt worden waren, schien das Jahr 1956 von Verheißungen erfüllt zu sein. Erich Loest, der am 24. Februar in Leipzig seinen 30. Geburtstag feiern konnte, einen Tag vor Chruschtschows Geheimrede, war ein junger und erfolgreicher Schriftsteller aus Mittweida in Sachsen, Verfasser dreier Romane und dreier Erzählbände, der durch sein erstes Buch " Jungen, die übrigblieben" (1950) zu frühem Ruhm gelangt war, aber 1953 auch schon wegen eines kritischen Artikels über den Aufstand vom 17. Juni, "Elfenbeinturm und rote Fahne", eine Parteistrafe hatte auf sich nehmen müssen. Er lebte mit Frau und zwei Kindern in der Leipziger Oststraße, besuchte das 1955 gegründete Literaturinstitut in der Tauchnitzstraße und arbeitete an einem Roman "Der Abhang" über versprengte SS-Truppen nach Kriegende in der Slowakei, der dann erst 1968, vier Jahre nach der Haftentlassung, erscheinen konnte. Die Moskauer Geheimrede vom 25. Februar hatte er sich aus West-Berlin besorgen können.

Diese Rede entwickelte eine einzigartige Sprengkraft. In der Ost-Berliner Redaktion des Sonntag, der Wochenzeitung des Kulturbunds, wo Gustav Just und Heinz Zöger arbeiteten, im Dienstzimmer Walter Jankas, des Leiters des Aufbau-Verlags, in der Redaktion der Deutschen Zeitschrift für Philosophie, deren Chefredakteur seit 1953 Wolfgang Harich war, in den gesellschaftswissenschaftlichen Instituten einiger, beileibe nicht aller sieben DDR-Universitäten, unter Journalisten und Schriftstellern bildeten sich lockere Diskussionsgruppen, deren Teilnehmer tief aufgewühlt waren von den Moskauer Enthüllungen und die lediglich im Freundeskreis darüber reden wollten, was sie bruchstückhaft aus westdeutschen Radiosendern oder aus eingeschmuggelten Westzeitungen hatten erfahren können. Die berechtigten Forderungen, die erhoben wurden, beschränkten sich auf die Entfernung der Altstalinisten um Walter Ulbricht aus der DDR-Führung. An Umsturz, Revolution, Staatsstreich dachte keiner der zwei, drei Dutzend Intellektuellen, nicht einmal der wendige und immer an vorderster Front agierende Wolfgang Harich, der mit der West-berliner SPD-Führung verhandelt und Rudolf Augstein in Hamburg aufgesucht hatte.

Das Ministerium für Staatssicherheit sah das alles ganz anders! Allein schon die Westreisen Harichs galten, obwohl er zur gleichen Zeit, am 7. November 1956, zwei Stunden mit Walter Ulbricht über seine Pläne diskutiert hatte, als "staatsfeindlicher Akt". An zwei Gesprächsrunden in Erich Loests Leipziger Wohnung mit einem polnischen Journalisten am 31. Oktober über die politischen Unruhen im benachbarten "Bruderstaat" und in Walter Jankas Haus in Kleinmachnow bei Berlin, wo Wolfgang Harich am 21. November seine "politische Plattform" erläuterte und woran auch Paul Merker, der politische Gegenspieler Walter Ulbrichts, teilnahm, versuchte die Staatssicherheit den Straftatbestand "konterrevolutionäre Gruppenbildung" festzumachen.

Beide Treffen hatten "fürchterliche Folgen" (Erich Loest). Am 29. November wurde Harich, hauptberuflich Professor für Philosophie an der Humboldt-Universität, verhaftet, am 14. November 1957 Erich Loest, dazwischen Walter Janka, der einstige Spanienkämpfer und Mexiko-Emigrant, Gustav Just, Heinz Zöger, Günter Zehm an der Universität Jena, um nur die prominentesten Opfer zu nennen. Die Strafzumessung durch die politische Justiz war unmenschlich hart: von zweieinhalb Jahren (Zöger) bis zehn Jahre (Harich, Schröder). Erich Loest verbrachte sieben Jahre im berüchtigten Zuchthaus Bautzen II, wurde am 25. September 1964 entlassen und durfte am 21. März 1981 von Leipzig nach Osnabrück ausreisen.

Erich Loest: Prozeßkosten. Bericht. Steidl Verlag, Göttingen 2007, gebunden, 300 Seiten, 18 Euro

Foto: Erich Loest im März 1981 in Osnabrück nach seiner Übersiedlung aus der DDR


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