© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 12/07 16. März 2007

"Es ändert sich nichts, weil sich nichts ändern soll"
Jugendgewalt II: Die ehemalige Rektorin der Berliner Rütli-Schule zieht Bilanz und berichtet über elterliche Gewalt, sexuelle Verrohung und Schikanen
Fabian Schmidt-Ahmad

Noch vor einem Jahr war die Rütli-Schule in Berlin-Neukölln nur wenigen bekannt. Dies änderte sich schlagartig, als ein Brandbrief des Lehrerkollegiums die dortigen Zustände anprangerte (JF 16/06). Das anschließende Geschrei der Schuldzuweisungen - angeheizt von einem gewaltigen Medienecho - war groß und machte die Einrichtung zu einem Symbol des pädagogischen Versagens. Nun wird die Rütli-Schule mit einem Tag der offenen Tür am 30. März den Jahrestag ihres zweifelhaften Aufstiegs zur Berühmtheit begehen.

Der Schuldige wurde auch gleich ausgemacht - es war die Lehrerschaft. Also diejenigen, die in dem Brandbrief auf den hohen Anteil von 83,2 Prozent Jugendlichen "nicht-deutscher Herkunft" hinwiesen. Es waren laut Welt "oft ältere Lehrerinnen, die sich mit Händen und Füßen dagegen gewehrt haben, plötzlich 35 türkische und arabische Jugendliche in Schach halten zu müssen". Auch die inzwischen pensionierte Rektorin der Rütli-Schule, Brigitte Pick, gehört nach dieser Lesart zu diesen Versagern. Pick leitete die Schule 23 Jahre lang, bis sie 2005 einen Nervenzusammenbruch erlitt. In der offenen Situation danach entstand der folgenträchtige Brandbrief.

Doch Pick will nicht die undankbare Rolle des Sündenbocks spielen. Mit "Kopfschüsse" erschien jetzt ein Buch, in dem sie ihre Erlebnisse aufarbeitete. Es sind teilweise eindrückliche und berührende Erzählungen aus ihrer Arbeit mit den Schülern geworden. Geschichten über elterliche Gewalt, sexuelle Verrohung und Schikanen von Mitschülern, die in ihrer endlosen Wiederholung den "normalen Hauptschulalltag" beschreiben. Nebenbei erfährt der Leser auch, was "Integration" in den Bezirken Neukölln und Kreuzberg heißt: "Werden straffällige muslimische Jugendliche zu sozialer Arbeit verurteilt, dann müssen sie diese nicht mehr bei weltlichen Trägern (...) ableisten, sondern verstärkt in Moscheevereinen. Dort erleben sie unmittelbar, wie die Familienhierarchie aufrechtzuerhalten ist, wie der Mann die Frau zu dominieren hat, welche Macht Brüder im Verhältnis zu ihren Schwestern ausüben sollen."

Der deutsche Staat als Täter

Doch werden auch die Schwächen des Buches rasch ersichtlich. Pick, die sich selbst als Linke bezeichnet, fällt bei der Problemanalyse in gewohnte Denkschablonen zurück. Hier der Täter in Gestalt des deutschen Staates, der vor den Trümmern seiner Erziehungspolitik steht - dort der benachteiligte Jugendliche mit Migrationshintergrund, der seine nur allzu verständliche Wut abreagiert: vorzugsweise an den verbliebenen deutschen Kindern. Auch begeht Pick den Fehler der Kollegenschelte. Aufgetretene Schwierigkeiten führt sie auf überforderte Lehrer zurück. Sie hätte ihrer Ansicht nach den Brandbrief nicht schreiben müssen. Der Gedanke, daß diese versagen mußten, weil die Verhältnisse gar nichts anderes zuließen, wird von ihr nicht zu Ende gedacht. Dabei wird gerade hier exemplarisch das Krankhafte eines verlogenen System ersichtlich, dessen Teil die Rektorin selbst war.

So urteilt Karin Dörschel, ehemalige Lehrerin der Rütli-Schule: "Alle Erscheinungen, die in dem Brief des Kollegiums geschildert werden, hat es während der Anwesenheit von Frau Pick auch schon gegeben. Der offene Umgang damit war allerdings im damaligen Sozialklima der Schule nicht möglich, weil Frau Pick nach außen eine 'funktionierende Schule' demonstrieren wollte." Dieses hermetische System der Lüge geriet genau dann kurzfristig ins Stottern, als durch den Nervenzusammenbruch der Rektorin für eine Weile der politisch Verantwortliche fehlte. Das Ergebnis war der berühmte Brandbrief, der derart hohe Wellen schlug.

Nicht durch die Problemlage unterscheidet sich die Neuköllner Rütli-Schule von anderen Schulen Deutschlands, sondern nur durch die Existenz dieses einen Briefes, der durch eine simple Eigenschaft solche politische Sprengkraft entwickelte: Er sprach die Wahrheit aus. Und das ist der eigentliche Skandal der Rütli-Schule. "Die Rütli-Schule kooperierte mit der Ausländerbehörde, mit dem Quartiersmanagement, mit dem türkischen Wirtschaftsverband, mit dem Jugendamt, der Jugendhilfe, mit der Polizei. Die Polizei führte regelmäßig Anti-Gewalt-Trainings in den Klassen durch" - schreibt die ehemalige Schulleiterin Pick. Die frisch gestrichene Fassade, die den Schulbesucher freundlich anstrahlt - die Renovierungsmaßnahmen geschahen gleichfalls zu ihrer Zeit.

Was sich änderte, ist der Rektor der Rütli-Schule. "Als Leiterin der Schule wollte ich verantwortlich sein für ein freiheitliches Leben und Lernen. Nach 37 Jahren in der Schule weiß ich nunmehr, daß sich nichts ändert, weil sich nichts ändern soll." Der neue Rektor hat sich bereits von diesem Buch seiner Vorgängerin distanziert.

Brigitte Pick: Kopfschüsse. Wer Pisa nicht versteht, muß mit Rütli rechnen, VSA-Verlag, Hamburg 2007, kartoniert, 182 Seiten, 14,80 Euro.


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