© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 12/07 16. März 2007

Distanz muß erlaubt sein
Doppelte Gebrochenheit: Der innerjüdische Konflikt und seine Wurzeln im Kaiserreich
Doris Neujahr

Wenn das Dritte Reich zum Vergleich herangezogen wird, um aktuelle innen- und außenpolitische Konflikte zu illustrieren, spricht daraus kein vertieftes Verständnis der Gegenwart und der Geschichte, sondern politische Polemik, die oft die Grenze zur Peinlichkeit überschreitet. So äußerte vor einigen Monaten die Präsidentin des Zentralrats der Juden in Deutschland, Charlotte Knobloch, die heutige Situation der Juden in Deutschland ähnele der von 1933. Diese Absurdität führte statt zur fälligen Empörung nur zum nachsichtigen Schweigen oder gar zu beflissener Selbstkritik. Knobloch wurden ihr Betroffenheitsbonus und ihre gute Absicht zugute gehalten.

Auf soviel Nachsicht durften die katholischen deutschen Bischöfe nicht hoffen, als während ihres Besuchs im Heiligen Land aus ihren Reihen Kritik an Israel laut wurde.

Sollte tatsächlich ein Vergleich zwischen den Palästinenserlagern mit dem Warschauer Ghetto angestellt worden sein, würde es sich um einen kommunikativen Mißgriff à la Knobloch handeln. Dann wäre zu fragen, ob man den Bischöfen nicht ebenfalls ihre Betroffenheit zugute halten müßte. Ein Vatikan-Sprecher hat ganz richtig bemerkt, man könne doch nicht die Holocaust-Gedenkstätte Yad Vaschem besuchen und anschließend beim Anblick palästinensischen Leids zur Tagesordnung übergehen!

Eine sachliche Qualität besitzt auf jeden Fall die ebenfalls kolportierte bischöfliche Äußerung, in Palästina herrsche eine "ghettoartige Situation" und "fast schon Rassismus". Wie soll man es denn sonst nennen, wenn die Palästinensergebiete jederzeit komplett abgesperrt, mit Ausgehverboten belegt und durch Grenzmauern zurückgestutzt werden können? Die nach dem Oslo-Abkommen von 1994 mühsam aufgebaute, von Europa finanzierte palästinensische Infrastruktur wurde seither systematisch wieder in Stücke geschlagen. Angesichts solcher Tatsachen den deutschen Bischöfen "Antisemitismus" zu unterstellen, wie der Zentralrat der Juden das getan hat, bedeutet eine Ehrabschneidung und ist ohne sachliche Relevanz.

Nun wird stets betont, natürlich dürften israelische Handlungen aus Deutschland kritisiert werden, doch dürfe man nicht die Grenze zum Antisemitismus überschreiten. Das ist eine Selbstverständlichkeit, doch in der Praxis läuft das darauf hinaus, mit der Antisemitismus-Keule jede Kritik an Israel zu unterbinden. Im Sommer 2006 wurde sogar die arglose Entwicklungshilfeministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul (SPD) aus dem Zentralrat mit Rücktrittsforderungen konfrontiert, als sie bezweifelte, daß der israelische Krieg gegen den Libanon durch das Völkerrecht gedeckt sei.

Zur Kritik der Bischöfe äußerte Stephan Kramer, Generalsekretär des Zentralrats, es sei "entsetzlich, daß die Nachfahren von Holocaust-Opfern zu Tätern gemacht werden". In Wahrheit hat niemand "die Nachfahren von Holocaust-Opfern zu Tätern" gestempelt, wie es überhaupt unsinnig ist, politische Konflikte in das manichäische Schema einer kollektiven Täter/Opfer-Zuschreibung zu pressen. Aber Kramers Verfahren hat System. Er suggeriert, daß Juden bzw. Israelis aus Prinzip keine "Täter" sein können, weil ihre Vorfahren "Opfer" waren.

Der geheiligte Status, der für die Holocaust-Opfer beansprucht wird und sie außerhalb aller menschlichen, geschichtlichen, politischen Maßstäbe und Bezüge stellt, wird auf deren Nachkommen und den Staat Israel ausgedehnt. Vermeintliche oder tatsächliche Interessen Israels werden damit in eine sakrale Dimension gerückt und Zweifel an ihnen via Antisemitismus-Vorwurf als Sakrileg geahndet. Damit ist die vielbeschworene sachliche Kritik außer Kraft gesetzt.

Denn Kritik bedeutet Distanzierung, Beurteilung, Infragestellung, bedeutet auch, sich gegen den Zwang zur Internalisierung metaphysischer, religiöser, rechtlicher, politischer oder allgemeiner gesellschaftlicher Vorurteile und Normensysteme zur Wehr zu setzen. Kritik bedeutet, die Prämissen, Bezugssysteme, Verfahren und Methoden von Normen (in diesem Fall: das Verhältnis zur Israel) zu überprüfen, um irrationale Momente auszuschalten. Nur wo das erlaubt ist, kann von der Möglichkeit der Kritik an Israel gesprochen werden!

Nun könnte kein größerer Fehler und keine größere Dummheit begangen werden, als aus der Abwesenheit dieser Möglichkeit einen deutsch-jüdischen Gegensatz zu konstruieren. Das beweist schon das couragierte Auftreten von Evelyn Hecht-Galinski, der Tochter des früheren Zentralratspräsidenten Heinz Galinski, die auch jetzt wieder die völlig unkritische Haltung des gegenwärtigen Zentralrats gegenüber der israelischen Politik in schärfster Weise kritisiert hat. Der Riß verläuft nicht zwischen "den Juden" auf der einen und "den Bischöfen" (oder "den Deutschen") auf der anderen Seite, er geht auch durch die jüdische Gemeinde.

Zur Erklärung dieser innerjüdischen Auseinandersetzung sei folgende These gewagt: In ihr reproduziert sich ein Konflikt, der bis in das Kaiserreich und die Weimarer Republik zurückführt.

Galinski-Hechts Vater gehörte zu den preußisch-deutschen Juden, die heute als Repräsentanten der deutsch-jüdischen Symbiose und einer auf grauenvolle Weise verspielten geschichtlichen Chance erinnert werden. Heinz Galinskis Verhältnis zu Deutschland konnte nach 1945 nicht mehr ungebrochen sein, aber dennoch repräsentierte er die zerstörte Tradition des deutschen Judentums.

Die heute im Zentralrat den Ton angeben und das Verhältnis zu Israel definieren, haben größtenteils andere biographische Wurzeln. Sie entstammen dem osteuropäischen Judentum, das neben Deutschland auch zur deutsch-jüdischen Tradition ein gebrochenes Verhältnis hat. Denn für die assimilierten deutschen Juden war der Begriff "'Ostjude (...) im besten Fall eine herablassende Bezeichnung für ausländische Juden, die man mittels finanzieller Hilfe möglichst schnell auf den Weg in ein anderes Land zu bringen hoffte", sie dünkten sich ihnen "kulturell überlegen" (Nachum T. Gidal).

Wie stark die aus dieser Zurücksetzung herrührenden Komplexe und Verwundungen nachwirkten, zeigte sich beispielhaft an Stephan Hermlin, der noch im autobiographisch getönten "Abendlicht" (1979) seine dunkelhaarige, ostjüdische Mutter, deren Schönheit Stadtgespräch war, in eine blonde Engländerin verwandelte. Die absolute Solidarität mit Israel, das seine staatliche Legitimität weitgehend aus dem als absolut gesetzten Holocaust herleitet, wird aus dieser doppelten Gebrochenheit verständlich. Sie ist ein existentieller Anker.

Foto: Palästinenser auf dem Markt in Hebron im Westjordanland, israelischer Soldat auf Patrouille: Israelis können keine "Täter" sein


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