© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 11/07 09. März 2007

Trost und Trotz
Vor 400 Jahren wurde der evangelische Kirchenlieddichter Paul Gerhardt geboren / Gott ist nicht harmlos und verhandelbar
(JF)

Führen Sie Bücher über Paul Gerhardt?" - Die junge Frau hinter dem Ladentisch einer kleinen Buchhandlung in Norddeutschland schaut ungläubig zurück: "Nein, so was haben wir nicht. Wer soll das sein?" Dabei böte das derzeitige Paul-Gerhardt-Jahr durchaus Vermarktungspotential.

Vielleicht ist es nicht ungewöhnlich, daß der Name von Deutschlands bedeutendstem Kirchenlieddichter auch regelmäßigen Kirchgängern nicht mehr selbstverständlich ist, da in gegenwärtigen Gottesdiensten seine Lieder längst nicht mehr überall zum Standardrepertoire gehören. Auf Konfirmandenfahrten singt man nämlich oft lieber vom nur gütigen Gott: "Herr, deine Liebe ist wie Gras und Ufer". - "Das ist doch zu traurig für die jungen Menschen und gar nicht mehr zeitgemäß", wird dann von ängstlichen Pastoren gegen Paul Gerhardt eingewandt.

Paul Gerhardt begleitet die Christen durch das Kirchenjahr, das mit dem Adventslied "Wie soll ich dich empfangen" in den Reigen eintritt und zur Weihnacht weiterwandelt: "Ich steh an deiner Krippen hier". Wer hier still wird im Gesang, der weiß, wer dieser Paul Gerhardt ist, der die Kirchgänger dort an seine unsichtbare Hand nimmt.

Er war ein protestantischer Pfarrer - das ist durchaus im wörtlichen Sinne zu verstehen - und, neben Martin Luther und vielleicht Jochen Klepper, der wichtigste deutsche Kirchenlieddichter. Geboren wurde Paul Gerhardt, der die deutsche Sprache um so viele heilige Formeln reicher gemacht hat, am 12. März 1607 in der Dübener Heide, einem Landstrich zwischen Elbe und Mulde, im Herzland des deutschen Protestantismus - dem kursächsischen Ackerbürgerstädtchen Gräfenhainichen.

Die Familie ist dort hoch angesehen und begütert. Paul ist eines von vier Geschwistern. Die Kinder in ihrem Lebenslauf zu begleiten, war den Eltern nicht lang vergönnt. Paul war vierzehn Jahre alt, als er "mutter-seelenallein" in die dunkle Zukunft hineinschreiten mußte. Vater und Mutter sind früh verstorben, die neunjährige Schwester Anna kam zu Verwandten und hat mit ihnen die Nöte des Krieges, der Pest, der Teuerung und der Drangsal geteilt. Die jüngere Schwester Agnes scheint daheim geblieben zu sein, die Söhne aber, Paul und der ältere Bruder Christian, sollen studieren. So gehen sie als Schüler nach Grimma in die Fürstenschule - ein früheres Augustinerkloster.

Das Leid des Dreißigjährigen Krieges begleitete Gerhardts Leben gleich einer rauhen Musik. Andreas Gryphius verleiht diesen dreißig Jahren in dem Gedicht "Tränen des Vaterlandes" (1636) seine düstere Stimme: Er raunt von rasenden Posaunen, von dem vom Blut fetten Schwert und der donnernden Karthaun. Die Türme sind von Glut besprengt, "der Seelen Schatz so vielen abgezwungen", heißt es. Auch die Heide, in die Paul Gerhardt hineingeboren worden war, wird dürre und wüst von den Söldnerheeren hinterlassen.

Paul Gerhardt studiert im tief vom Luthertum geprägten Wittenberg Theologie und arbeitet vermutlich ab 1642 als Hauslehrer in Berlin. 1647 erscheinen 18 geistliche Lieder von ihm im Berliner Gesangbuch "Praxis Pietatis Melica" des Nikolaikantors Johann Crüger. Bei seiner Arbeit als Hauslehrer lernt er die Tochter des Kammergerichtsadvokaten Andreas Berthold kennen. Anna Maria Berthold wird er 1655 heiraten.

"Ich kann die Calvinisten nicht für Christen halten"

Spät, erst 1651, ordiniert man den 44jährigen Paul Gerhardt nach erfolgreicher Probepredigt in Mittenwalde in der Berliner Nikolaikirche auf die lutherischen Bekenntnisschriften. Er selbst fügt ausdrücklich die Konkordienformel von 1577 - das zur Beilegung innerlutherischer Auseinandersetzungen verfaßte einheitliche lutherische Lehrbekenntnis - hinzu und verspricht, bis an sein Lebensende in dieser Lehre beständig zu bleiben. Für diese Standfestigkeit in Gewissen und Bekenntnis wird Paul Gerhardt einen hohen Preis bezahlen. 1657 geht er als Diakonus nach St. Nikolai in Berlin. Wenige Jahre später geraten die lutherischen Pfarrer in große berufliche Schwierigkeiten.

Die Lehre Calvins wird aus Genf auch nach Brandenburg getragen. Die Calvinisten, die in Berlin Einfluß gewinnen wollen, versuchen Gottesdienste und kirchliche Ordnungen in ihrem Sinne zu verändern; die Heilige Messe von Katholiken und Lutheranern wird "eine vermaledeite Abgötterei" genannt. Kruzifixe und Heiligenbilder werden abgerissen, das Gotteshaus soll kahl sein, reduziert, denn: "Du sollst Dir kein Bildnis machen". Der Große Kurfürst Friedrich Wilhelm I. ergreift offen Partei für die Reformierten und erläßt Edikte, die den Kirchenfrieden wiederherstellen sollen. Jeder lutherische Theologe hat nun mit seiner persönlichen Unterschrift zu beglaubigen, sich gegenüber Andersgläubigen tolerant zu verhalten. Aufgrund der Verpflichtung auf die Konkordienformel, die Paul Gerhardt aus innerer Überzeugung eingegangen war - und durch die jede Annäherung an die Reformierten unmöglich gemacht wurde -, konnte er die kurfürstliche Verordnung nicht durch seine Unterschrift anerkennen, wie von ihm verlangt wurde. Er verweigert sich als einer der Unerschütterlichen, die in vorderster Reihe gekämpft hatten: "Ich kann die Calvinisten qua tales (als solche) nicht für Christen halten." Hatte doch auch Luther, als es darauf ankam, nicht nachgegeben. Paul Gerhardt wird 1666 deswegen wie einige andere seines Amtes enthoben, nun hat er viel Zeit zum Dichten. Das wird gut ein Jahr später sing- und sichtbar: Der Nachfolger Johann Crügers im Nikolaikantorat, Johann Georg Ebeling, gibt in zehn Lieferungen die erste Gesamtausgabe Gerhardtscher Lieder (120) heraus.

Die Klingen des Krieges haben ihre Furchen auf der "armen Erde" hinterlassen. Die theologische Erklärung des Krieges als Folge göttlichen Zorns über die menschliche Schuld steht für Paul Gerhardt außer Frage. Beschwörend appelliert er deswegen: "Ach, laß dich doch erwecken, / Wach auf, wach auf, du harte Welt". Es bleibt, den Herren Gott durch die fromme Tat gnädig zu stimmen. Während der Dichter Gryphius über den Tagesabend in stumme Klage ausbricht ("Wie ist die Zeit vertan!"), ruft Paul Gerhardt in seinen Versen auf, nieder zu Gott zu gehen, ihn zu bitten, er möge die irdischen Jammerpforten schließen, und sein Lob anzustimmen: "Ihr aber, meine Sinnen, / Auf, auf, ihr sollt beginnen, / Was eurem Schöpfer wohlgefällt".

Nachdem Paul Gerhardt die dogmatischen Messer im Kampf der Konfessionen wetzen mußte, spürt er nun den harten Schnitt des Lebens im Herzen der Familie: 1656 beginnt der Reigen der Kindertotenlieder. Paul Gerhardt muß in seinem Vaterleben hinter den Särgen von vier seiner fünf Kinder hinterhergehen. In einem der späteren Gedichte mahnt er tröstend: "Weint und weint gleichwohl nicht zu sehr! / Denn was euch abgestorben, ist wohl daran und hat nunmehr / das beste Teil erworben; / Es ist hindurch ins Vaterland, / nachdem der harte, schwere Stand, / der hier war, überstanden."

Die letzten zwanzig Jahre sind von Lebensleid und Alltagsfreude - wie von den Jahreszeiten - umkleidet. Aus dieser Zeit stammen auch drei der berühmtesten Lieder Paul Gerhardts: "Wie soll ich dich empfangen", "Befiehl du deine Wege" und "Geh aus mein Herz".

Von Gott wird als gütig und zornig erzählt

Es gibt Momente der Gottesferne. Der von Luther zugleich als "deus absconditus" (abgewandter) und "deus relevatus" (offenbar gewordener) beschriebene Gott begegnet auch Paul Gerhardt in seinen zwei Gestalten. Er weiß, daß Kreuz und Schmerz "das Vaterherz" ihm senden, und er weiß auch, daß allein Gottes Gnade ihn "an Leib und Seele grünen" lassen kann. Es ist nicht an uns, sondern in der Hand des Herrn.

1668 stirbt seine Frau, Paul Gerhardt wird von diesem Zeitpunkt an keine Liedzeile mehr zur Dichtung bringen.

Was bedeutet nun eigentlich "Trost"? Die sprachliche Wurzel ist dieselbe wie die von "Treue" und "Trotz". Bei Paul Gerhardt bedeutet es wohl: sich von Gott getröstet zu wissen, ihm in aller Lebens-Bitternis treu zu bleiben. "Ich bin ein Gast auf Erden", so heißt es. "Ich wandre meine Straßen, / Die zu der Heimat führt, / Da mich ohn alle Maßen / mein Vater trösten wird." Paul Gerhardt stirbt am 27. Mai 1676 im lausitzischen Lübben, dorthin war er 1668 als Archidiakonus berufen worden. Er wird im Chorraum nahe dem Altar, an seiner letzten Wirkungsstätte, beigesetzt. Seinem einzig lebenden Kind hinterläßt er sein Testament: "An irdischen Gütern wenig" werde er ihm vermachen können, dafür aber einen "ehrlichen Namen" samt einer Reihe erprobter und erlittener Lebens- und Glaubensgrundsätze.

Es ist ein Erbe aus Liedern, das derjenige hinterläßt, der hinter seinem Werk zurücktritt und "als namenloses Lied durchs Volk geht", um auf Gottes Botschaft zu weisen. - Nicht alle Kirchgänger wissen, daß das, was sie da singen, über das Leben tröstende und dem Erdenleben trotzende Liederdichtung von Paul Gerhardt ist, dessen 400. Geburtstag naht.

"Herr, deine Liebe ist wie Gras und Ufer" ist nur die eine Seite der Wahrheit. Von Gott wird als gütig und zornig erzählt. Gott ist nicht harmlos und verhandelbar. Wir vermögen seine Wege nicht zu ergründen, und vieles ist nicht in unserer Hand. Das macht Paul Gerhardt auf eindrückliche Weise transparent: daß wir die Stärke und die Zuversicht aufbringen müssen, die Bitternis als auch von Gott gegeben zu tragen, ohne die Gründe unseres Lebensleides immerfort auf pränatale Störungen oder eine schlechte Kindheit zurückzuführen. Er zeigt, daß es tiefe Sprache gibt für trauriges Wissen und demütigen Dank. Und daß diese Sprache Heimat geben kann.

Paul Gerhardt hatte eine klare Lehre, nicht irgendeine "eigene Form" von Religiosität. Er wußte, was ein einmal geleistetes Bekenntnis fordert, und steht jeder religiösen Beliebigkeit entgegen. Das kann uns heute nicht in Ruhe lassen.

 

Lebenslauf: Paul Gerhardt

1607 Paul Gerhardt wird am 12. März in Gräfenhainichen, zwischen Wittenberg und Bitterfeld, geboren.

1621 Gerhardt wird Vollwaise.

1622 Besuch der Fürstenschule in Grimma.

1628 Theologiestudium in Wittenberg. Prägung in Bekenntnis und Gewissen zum strengen Luthertum.

1637 Gerhardts Geburtsstadt wird im Dreißigjährigen Krieg verheert, sein Elternhaus niedergebrannt.

Ab etwa 1642 arbeitet Gerhardt in Berlin als Hauslehrer. In dieser Zeit schuf er viele Liedtexte, die Johann Crüger, der Kantor an der Berliner Nikolaikirche ist, vertonte.

1643 Gerhardts erstes nachweisbares deutsche Gedicht wird gedruckt.

1647 erscheinen 18 geistliche Lieder Gerhardts in Johann Crügers Berliner Gesangbuch "Praxis Pietatis Melica".

1651 Paul Gerhardt wird am 18. November in der Nikolaikirche in Berlin ordiniert.

1653 In der 5. Auflage von Crügers Gesangbuch erscheinen 64 neue Lieder von Paul Gerhardt.

1655 Heirat mit Anna Maria Berthold.

1656 Das erste seiner Kinder stirbt kurze Zeit nach der Geburt. Von insgesamt fünf Kindern wird nur eines (Paul Friedrich 1662-1716) das Kleinkindalter überleben.

1657 Berufung durch den Berliner Magistrat auf eine der Pfarrstellen an der Nikolaikirche. Baldiger Amtsantritt als Diakonus.

1661 erscheint Johann Crügers Gesangbuch "Praxis Pietatis Melica" in der 10. Auflage mit insgesamt 90 Liedern Paul Gerhardts.

1664 Der Kurfürst erläßt ein verschärftes Edikt über "Kirchentoleranz" mit nachfolgender Unterschriftsforderung. Einige Berliner Pfarrer verweigern die Unterschrift und müssen das Land verlassen. Auch Paul Gerhardt unterschreibt aus Gewissensgründen nicht.

1666 Amtsenthebung Paul Gerhardts.

1666 bis 1667 gibt der Nachfolger Crügers im Nikolaikantorat, Johann Georg Ebeling, in zehn Lieferungen die erste Gesamtausgabe Gerhardtscher Lieder (120) heraus.

Februar 1667 Paul Gerhardt legt sein Amt nieder und wird endgültig durch den Kurfürsten abgesetzt.

1668 Tod von Gerhardts Frau.

1668 Berufung nach Lübben als Archidiakonus.

1676 Paul Gerhardt stirbt am 27. Mai in Lübben.


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