© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 10/07 02. März 2007

Kein deutsch-tschechischer Gegensatz
Der Regensburger Historiker Bernd Rill hat eine monumentale Geschichte Böhmens und Mährens vorgelegt
Ekkehard Schultz

Mit seiner sechsbändigen „Geschichte von Böhmen“ hat der slawische Historiker Franz Palacky Mitte des 19. Jahrhunderts einen wesentlichen Grundstein zur gesamten wissenschaftlichen Historisierung dieser Kernregion Europas gesetzt. Dennoch stellte Palackys Werk bei allem Bemühen um wissenschaftliche Objektivität eine politische Deutung dar. Die zeitgenössische Rezeption sah darin einen entscheidenden Beitrag zur nationalen Wiederbesinnung des tschechischen Volkes.

Wie Palackys Werk mußte sich seither jeder Versuch, einen Überblick über die Historie des böhmisch-mährischen Raumes zu erstellen, an politischen Fragestellungen messen lassen, die oft auf einfachsten nationalen Zuordnungen beruhten. Wer besiedelte diesen Regionen zuerst, Germanen oder Slawen, wer leistete die entscheidenden Beiträge zur Erstellung der wesentlichen kulturellen Einrichtungen, die bis heute diesen Raum prägen, wer kämpfte um seine Freiheit, und wer unterdrückte diese? An der jeweiligen Beantwortung dieser und weiterer Kernfragen richteten sich dann auch die jeweiligen Schwerpunkte und Erklärungen aus.

Was nicht in das grundsätzliche Profil des Nationalitätenkampfes wie auch der sozialen Kämpfe paßte – in das einfache Schema von Gut und Böse –, wurde am liebsten komplett verschwiegen. So entstanden lange Zeit von tschechischer und von deutscher Seite Geschichten, bei denen über kaum mehr als einige Eckdaten erkennbar war, daß sie formal den gleichen Gegenstand behandelten. Eine allmähliche Änderung ist erst in den letzten beiden Jahrzehnten zu erkennen, seitdem die Möglichkeiten des freien Dialogs zwischen deutschen und tschechischen Historikern wieder problemlos gegeben sind.

Eine Mittelstellung nehmen bereits seit längerem die Werke von Historikern mit sudetendeutschen Wurzeln ein. Sie waren die ersten, die sich von der lange Zeit verbreiteten Vorstellung der Geschichte Böhmens und Mährens als Darstellung eines – mit wenigen Unterbrechungen – fortlaufenden Kampfes zwischen Deutschen und Tschechen lösten. Statt dessen legten sie Wert auf die von zahlreichen Beispielen aus der Historie belegte Feststellung, daß die Kontakte zwischen beiden Nationalitäten über viele Jahre in friedlicher Form verliefen und es durchaus gelungene Symbiosen gab. Auch das vor kurzem im Casimir Katz Verlag erschienene zweibändige Werk „Böhmen und Mähren – Geschichte im Herzen Mitteleuropas“ des Regensburger Historikers Bernd Rill, der 1948 in der Donaustadt geboren wurde, setzt diese Tradition fort.

Innerhalb seiner Gesamtdarstellung, die von den allerersten Nachweisen einer menschlichen Besiedelung bis zur Aufnahme Tschechiens in Nato und EU reicht, legt der Autor besonderen Wert auf die Tatsache, daß die Geschichte Böhmens und Mährens in hohem Maße durch Mythen geprägt und dementsprechend auch verklärt wird.

Ein klassisches Feld für diese Legenden in der tschechischen Geschichtsrezeption ist die Darstellung des 8. bis 11. Jahrhunderts. Besonders eignet sich dazu das im 9. Jahrhundert errichtete Großmährische Reich – die mutmaßlich erste slawische Staatsgründung auf dem Gebiet Böhmens und Mährens. So stellte der Umstand, daß sich dieses Reich auch auf weite Teile der heutigen Slowakei erstreckte, eine beliebte Rechtfertigung für die tschechoslowakische Staatsgründung von 1918 dar und wurde natürlich auch nach 1945 als Argument genutzt. Dabei ist äußerst fraglich, ob dieses Reich auch nur geringe Gemeinsamkeiten mit einer Staatsgründung der Neuzeit aufweist, von der damaligen ethnischen Zusammensetzung dieses Gebildes gar nicht zu reden. Aber sonst hätte es kaum Beweise dafür gegeben, daß Tschechen und Slowaken in ihrer Geschichte überhaupt eine Phase enger Zusammengehörigkeit erlebt hätten.

Ähnlich verhält es sich mit vielen anderen Legenden. Rill belegt, daß die Geschichte der Slawenapostel Cyrill und Method erst viele Jahrhunderte später einen nationalen Akzent erhielt. Vielmehr handelt es sich um einen klassischen frühen Christianisierungsversuch. Zwar verbreiteten die Apostel die Liturgie in slawischer Sprache, doch mit bulgarischem Dialekt. Die Initiative ging von Byzanz aus. Als Beleg für die nationalen Strukturen in Böhmen und Mähren zu dieser Zeit ist dieser Mythos daher ebenfalls wenig geeignet.

Kaum anderes sieht es mit dem tschechischen Nationalmythos von der Prinzessin Libussa aus, die nach der Legende den Ackermann Premislaus zum Mann wählte, der als Ahnherr der Dynastie der Premisliden gilt. Populär wurde der Stoff in der Neuzeit bezeichnenderweise erst wieder durch das Trauerspiel des deutschen Dichters Franz Grillparzer. Auch der Mythos von Herzog Wenzel (dem Heiligen Wenzel), den seit Bruder Boleslav tötete, weist keinen nationalen Ursprung auf, der ethnisch zugeordnet werden könnte. Zudem bleiben die konkreten Motive dieser Tat umstritten.

Ausführlich widmet sich Rill ferner der im 19. Jahrhundert zum vermeintlichen „Urbegriff des Tschechentums“ erhobenen Hussiten-Bewegung. Auch hier belegt Rill, daß der nationale Charakter der Bewegung höchst zweifelhaft ist: Die religiösen Reformansätze eines Wicliff oder eines Hus fanden gerade bei den damaligen deutschen Eliten Böhmens nicht weniger Anklang als innerhalb der slawischen Bevölkerung. Es gab zahlreiche deutsche Hussiten.

Von dem umfassenden Elitenaustausch im Zuge von Gegenreformation und Rekatholisierung durch die Habsburger und der Etablierung eines kaisertreuen Adels waren Deutsche und Tschechen ebenso gleichermaßen betroffen. Allerdings gab es starke regionale Unterschiede. So konnte in einigen Gebieten der religiöse Kampf tatsächlich Züge einer scheinbar national bzw. ethnisch motivierten Auseinandersetzung annehmen.

Dennoch beläuft sich Rills Darstellung keineswegs auf eine Hinterfragung von historischen Mythen und ihrer Bedeutung für Deutsche und Tschechen. An zahlreichen Stellen der Bände kommt vielmehr ein deutliches Verständnis des Autors für die magische Kraft vieler Legenden – die bis heute anhält – zum Ausdruck. Vielmehr geht es Rill darum, die Gründe für Mißverständnisse und unterschiedliche Bewertungsmaßstäbe der Geschichte Böhmens und Mährens bei Deutschen und Tschechen offenzulegen, welche bis heute Nachwirkungen haben.

Insgesamt trägt Rills Werk deutlich die Handschrift eines Autors, dem die (Wieder-)Herstellung einer gemeinsamen Erinnerungskultur an den böhmisch-mährischen Raum zwischen Deutschen und Tschechen besonders am Herzen liegt. Rill möchte dazu beitragen, die immer noch spürbaren Gegensätze zu mildern und ein für beide Seiten tragbares Bewußtsein für die Geschichte dieser Region zu entwickeln.

Die zweibändige Arbeit ist weitestgehend frei von tatsächlich Überraschendem, dabei jedoch eine interessante und sehr plastische Überblicksdarstellung, die sich trotz ihrer Breite und Tiefe primär an den historischen Laien wendet. Denn im Sinne der besseren Lesbarkeit verzichtet Rill komplett auf Fußnoten, was freilich die Klientel der Bände doch deutlich einschränkt.

Bernd Rill: Böhmen und Mähren – Geschichte im Herzen Mitteleuropas. Casimir Katz Verlag, Gernsbach 2006, zwei Bände, gebunden, 1.100 Seiten, 59 Euro

Foto: Mährische Hauptstadt Brünn mit Peter-und-Paul-Dom: Durchaus gelungene Symbiosen


Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen