© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 10/07 02. März 2007

Elite für alle!
Unter derzeitigen Vorzeichen hat eine bürgerlich-konservative Politik keine Chancen
Thorsten Hinz

Die Bundestagswahlen 2005 beendeten die Illusion, eine rationale Politik ließe sich durch Wahlen erzwingen. Gerhard Schröder sah damals nicht deshalb der sicheren Abwahl entgegen, weil seine Reformpolitik als falsch empfunden wurde, im Gegenteil. Die Wählermehrheit kritisierte die rot-grüne Stümperei und bezweifelte, daß der Kanzler in der SPD über ausreichend Rückhalt verfügte.

Doch dann schrumpfte Schröder wieder vom Staatsmann zum Parteipolitiker und kramte die Karte der „sozialen Gerechtigkeit“ hervor. Damit geriet er in Widerspruch zur eigenen Politik, was die Wähler freilich genausowenig störte wie die eben noch bekundete Notwendigkeit von Reformen. Die Einsicht, daß man auf die Urteilskraft der Wähler nicht bauen kann, muß seitdem zu der Frage zugespitzt werden, ob demokratische Wahlen überhaupt noch geeignet sind, die Zukunft des Gemeinwesens zu sichern.

Auch wer mit Churchill die Demokratie für das beste politische System hält, das bisher ausprobiert wurde, erkennt Gründe, die einem schnellen Ja entgegenstehen. Erstens bewegen wir uns unaufhaltsam auf eine Gerontokratie zu, auf die Herrschaft der Alten. Entscheidend für die Erringung politischer Mehrheiten ist der sogenannte Median der Altersverteilung der wahlberechtigten Bevölkerung. Wenn man diese nach ihrem Lebensalter aufreiht, bezeichnet der Median das kritische Alter, das die aufgereihten Menschen in zwei gleich große Gruppen teilt.

In einer Demokratie ist es unmöglich, Entscheidungen gegen die Interessen des Medianwählers herbeizuführen, und Parteien sind ungeachtet ihrer politischen Präferenzen gezwungen, ihm entgegenzukommen. Von heute 47 Jahren wird der Median bis 2024 auf 54 Jahre steigen. Ab diesem Alter ist die Neigung, Ansprüche zu verteidigen, stärker als die Bereitschaft, ins Unbekannte aufzubrechen. Der Münchner Ökonom Hans-Werner Sinn („Ist Deutschland noch zu retten?“) weist darauf hin, daß eine Rentenreform, die die Jungen ent- und die Älteren belastet, allein schon aus demographischen Gründen ab 2015 kaum noch durchsetzbar ist.

Die Aussicht auf den Bankrott des Sozialstaats würde bei Politikern und Wahlvolk ein Umdenken erzwingen, lautet allerdings die populäre Gegen-Formel. Sie bleibt unbewiesen. Genauso ist es möglich, daß die Politik, angetrieben von breiten Wählerschichten, die Privatvermögen enteignet, um den Bankrott hinauszuzögern. Anzeichen dafür gibt es genug. Die Mentalität, die zunehmend wirksam ist, hat kürzlich den SPD-Vorsitzenden Kurt Beck zu dem Ausruf veranlaßt, „die Fähigkeit zum Aufstiegswillen ist vielen verlorengegangen“. Längst sucht diese Mentalität sich mit Erfolg ihre politischen Vertreter! Denen wiederum ist das destruktive Sozialverhalten durchaus recht, denn unselbständige, bedürftige Wähler sind zugleich die verläßlichsten.

Die Verschiebungen in den Sozial- und Persönlichkeitsstrukturen, die sich vollziehen, werden durch den Begriff „Proletarisierung“ erfaßt. Er hat zwei Bedeutungen. In Rom waren die „proletarii“ die unterste, vermögenslose Bevölkerungsschicht. Sie erhielten vom Staat regelmäßig Getreide und wurden durch kostenlose Zirkusaufführungen bei Laune gehalten. Politisch war dieses Lumpenproletariat einflußlos, da es sein Stimmrecht verkaufte.

Der zweite, moderne Wortsinn meint das Industrieproletariat, laut Marx die Triebkraft des gesellschaftlichen Fortschritts. Seine im Arbeitsprozeß erworbene Disziplin und der hohe Organisationsgrad waren wirksame Waffen, um sich politische und soziale Rechte zu erkämpfen. Da die von Marx prophezeite allgemeine Verelendung sich in ihr Gegenteil verkehrte, ging es der Arbeiterbewegung immer weniger um den gesellschaftlichen Umsturz als um den individuellen Aufstieg. Geistig-kulturell orientierte sie sich am bildungsbürgerlichen Ideal. Beides erforderte Mühe!

In Krisenzeiten (wie jetzt beim Zusammenbruch klassischer Industriestrukturen) zeigt sich aber, daß die lumpenproletarische Grundströmung stets mächtig geblieben ist. Von der konservativen Kulturkritik wurde früh bemerkt, daß die Masse, die als Konsument und Stimmbürger zum Hauptakteur des Geschehens aufsteigt, die Wertehierarchie umstürzt und ihre eigenen Gewohnheiten als verbindlich festlegt. „Der Gegensatz von vornehm ist nicht arm, sondern gemein“, schreibt Oswald Spengler.

Die Proletarisierung vollzieht sich nicht nur in der sozialen Unterschicht. „Elite für alle!“ plakatierten kürzlich Berliner Studenten. Elite ist hier ein einklagbarer Anspruch, kein Status mehr, der erarbeitet und unter Beweis gestellt werden muß. Von dieser siegreichen „Gemeinheit“ noch Aufstiegswillen zu erwarten, ist ein Widerspruch in sich, denn er setzt das Bewußtsein gesellschaftlicher, geistiger, kultureller Hierarchien voraus, die wiederum verknüpft sind mit dem „Erlebnis der Unterordnung, (mit) Dienst- und Pflichtbewußtsein“ (Spengler). Diese Hierarchien sind im demokratischen Diskurs nicht mehrheitsfähig, sie gelten (zu Recht!) als vor- oder antidemokratisch und werden geschleift. Das gleiche und allgemeine Stimmrecht ist das Mittel dazu.

Dessen Verfügbarkeit unterscheidet das aktuelle Proletariat vom römischen. Die neuen Proletarier können es benutzen, um „stets jene Maßnahmen (zu bejubeln), die ihre momentane Lage erleichtern, die aber mit Sicherheit mittel- und langfristig eine Verschlechterung der gesamtwirtschaftlichen Lage und damit der Lebensbedingungen mit sich bringen und letztlich in die Katastrophe führen“, so der Leipziger Bevölkerungswissenschaftler Volkmar Weiss. Diese Entwicklung verschärft sich permanent durch die überdurchschnittliche Natalitätsrate dieser Schichten und die verfehlte Zuwanderung, der die Abwanderung intelligenter Leistungsträger gegenübersteht. (Da die Einführung des allgemeinen Wahlrechts für Ausländer in der Logik der weiteren Demokratisierung liegt, ist sie, zunächst auf kommunaler Ebene, nur noch eine Frage der Zeit.) Wissenschaftler aus Mecklenburg-Vorpommern sprechen bereits von „intelligenzmäßiger Ausdünnung“ und „sozial bedingtem Schwachsinn“ in ihrem Bundesland.

Wie soll unter diesen Umständen eine bürgerliche, konservative Politik-Alternative entstehen? Daß sie notwendig wäre, daran kann sicher kein Zweifel bestehen. Doch chancenreich ist nur, wer „soziale Gerechtigkeit“ verspricht und Gleichmacherei, Substanzvernichtung und die Drangsalierung der Leistungswilligen praktiziert. Die Frage, wie die Demokratie wieder zu einer politischen Lebensform werden kann, die konstruktiv wirkt, stellt sich mit neuer Schärfe.

Foto: Abstimmung: Unselbständige, bedürftige Wähler sind der politischen Klasse durchaus recht, denn sie sind zugleich auch die verläßlichsten


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