© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 10/07 02. März 2007

„Das Schicksal widerspiegeln“
Die Geschichtsfilmwelle rollt. Für den ARD-Journalisten Günther von Lojewski Folge der Verdrängung. Ein Streitgespräch
Moritz Schwarz

Herr Professor von Lojewski, für ARD-Programmdirektor Günter Struve ist „Die Flucht“ das „TV-Event des Jahres“. Als „das Fernsehfilmereignis 2006“ bezeichnete das ZDF im letzten Jahr „Dresden“, seine Verfilmung der Vernichtung der Elb-Metropole im Februar 1945. Woher kommt diese plötzliche Begeisterung für Filme über deutsche Geschichtsmythen unserer jüngeren Vergangenheit, die immerhin bis vor kurzem nach fast einhelliger Feuilletonmeinung noch als tabu galten?

Lojewski: Ich darf daran erinnern, daß für das deutsche Fernsehen der Umgang mit der Geschichte so neu nicht ist. Ich nenne nur die 1981 gesendete dreiteilige ARD-Serie „Flucht und Vertreibung“, an deren Entstehen ich beteiligt war. Seitdem gab es immer wieder Dokumentationen zum Thema, zuletzt im Dezember 2006 den ZDF-Dreiteiler „Kinder der Flucht“. Sie haben aber damit recht, daß die Aufarbeitung in Spiel- oder Fernsehfilmen derzeit beim Publikum trendy ist.

„Die Flucht“, „Dresden“, „Der Untergang“, „So weit die Füße tragen“, „Stauffenberg“, „Die Luftbrücke“ – im Herbst kommt „Der Rote Baron“ ins Kino und das ZDF beginnt im März mit den Dreharbeiten zu „Hafen der Hoffnung – die letzte Fahrt der Wilhelm Gustloff“.

Lojewski: Sicherlich spielt für diese Filmwelle auch der Umstand eine Rolle, daß die Menge der Originalaufnahmen begrenzt ist. Zwar haben wir nach dem Ende der DDR in deren Archiven noch neues Bildmaterial gefunden, aber auch das ist irgendwann erschöpft. Der logische nächste Schritt war, Dokumentationen mit Spielszenen zu mischen, wie das bei uns in Deutschland etwa – zunächst sehr umstritten – Guido Knopp vorgemacht hat. Die nächste Stufe war, die gesamte Darstellung mit den Mitteln einer fiktiven Handlung und gestellter Kino- bzw. Filmbilder zu versuchen.

Sehen Sie neben diesem technischen auch noch einen gesellschaftlichen oder psychologischen Grund?

Lojewski: Das, was in Menschen an Furcht, Angst, Verzweiflung oder Hoffnung vorgeht, läßt sich in einer Dokumentation schwer fassen. Fiktive Geschichten bieten dagegen die Möglichkeit, auch das innere Erleben der Menschen darzustellen. Denken Sie zum Beispiel an den eben mit einem Oscar ausgezeichneten Film „Das Leben der Anderen“, der das Milieu der DDR-Staatssicherheit und die Gewissensfragen dieser Zeit am fiktiven Beispiel eines Stasi-Offiziers behandelt.

Ein geschichtspolitisches bzw. nationalpsychologisches Movens sehen Sie nicht?

Lojewski: Wir haben nach 1945 leider den Fehler gemacht, die Schrecken des Dritten Reiches nicht frühzeitig, intensiv und „über die Generationen hinweg“ zu behandeln. Ich kann zwar im Einzelfall verstehen, warum die Väter, die seelisch verwundet aus Krieg und Gefangenschaft heimkehrten oder in Greueltaten oder Verbrechen verstrickt waren, nicht haben reden wollen. Ende der sechziger Jahre hat das dann aber doch dazu geführt, daß öffentlich die Frage aufkam: „Wo wart ihr damals? Wie konnte das passieren?“ Diese Frage wurde nie endgültig beantwortet. Kein Wunder, daß sie uns Deutsche auch nach zwei Generationen noch beschäftigt und heute eben im Gewand der Zeit – und dazu gehören auch die Unterhaltungsformate der Massenmedien – wiederkehrt.

Bei Filmen wie „Das Leben der Anderen“ oder „Der Untergang“ ist ein künstlerischer Anspruch nicht zu verkennen. „Dresden“ oder nun „Die Flucht“ kommen allerdings so seicht daher, daß man sie am nächsten Tag schon zu vergessen beginnt.

Lojewski: Das scheint mir ein sehr subjektives Urteil zu sein. Aber selbst wenn es stimmen sollte, es gibt eben keinen Journalisten, Dokumentaristen oder Filmemacher, dem alle Werke gleich gut gelingen.

Hans-Jürgen Syberberg hat davon gesprochen, die Themen um den deutschen Untergang 1945 seien eigentlich Stoff für griechische Tragödien. Warum ist bei einem so starken „Material“ die künstlerische Ausbeute so gering?

Lojewski: Was verstehen Sie unter griechischer Tragödie? Nach klassischer Lehre ist eine Lage dann tragisch, wenn Menschen vor eine Situation gestellt sind, in der sie sich auf keinen Fall richtig entscheiden können, sich also auf jeden Fall falsch entscheiden müssen. Weil sie, um einen Wert zu retten, einen anderen verraten. Nehmen Sie zum Beispiel die Situation, in der sich Stauffenberg, Dietrich Bonhoeffer oder Sophie Scholl befunden haben. Wenn Sie deren Schriften und Briefe lesen, wird Ihnen der tiefe tragische Zwiespalt deutlich, in dem sich diese Menschen befunden haben.

Ist das künstlerische Problem dieser Filme vielleicht, daß sie politisch korrekt durchkomponiert sind?

Lojewski: Ich hätte eher die Sorge, daß etwas politisch unkorrekt ist, wenn zum Beispiel die Verbrechen des Dritten Reiches beschönigt oder die Alliierten nur als gute Engel dargestellt werden würden. Ich beobachte im Gegenteil derzeit bei uns leider eher die Tendenz zu einem leichtfertigen Anti-Amerikanismus. Ich habe nicht den Eindruck, daß hierzulande zum Zwecke des moralischen Ausgleichs oder der Rechtfertigung die deutsche Geschichte im nachhinein verfälscht wird.

Was soll es dem deutschen Zuschauer sagen, wenn zum Beispiel in „Dresden“ ein englischer Flieger im Mittelpunkt des Untergangs der Stadt steht? Oder wenn in der Folge „Breslau brennt!“ der Reihe „Kinder der Flucht“ die Belagerung der Stadt aus der Sicht eines polnischen Zwangsarbeiters statt der deutschen Einwohner geschildert wird?

Lojewski: Das ist eine berechtigte Frage. Die läßt sich aber beantworten: Wenn man etwas Abstraktes wie einen Gewissenskonflikt darstellen will, dann kann man das am besten am Beispiel eines persönlichen Schicksals, sozusagen im Gesicht eines Menschen, tun. Man braucht Figuren, anhand derer man dem Publikum verdeutlichen kann, wie ein solcher Konflikt sich abspielt. Daß in bezug auf Dresden auch ein englischer Pilot ein enormes Potential bietet, liegt doch auf der Hand.

„Die Flucht“ zeigt ein einziges Kriegsgreuel durch Rotarmisten – die aber sofort von den eigenen Kameraden gerichtet werden. In „So weit die Füße tragen“ wurde ein ritterlicher Rotarmist ins Drehbuch geschrieben, den es in der wahren Geschichte nicht gab – wie die Macher offen zugaben, auch ein Zugeständnis an die „Political Correctness“.

Lojewski: Das sind Einzelbeispiele, die es sicher geben mag. Ich bezweifle aber, daß das für alle diese Filme zutrifft, die in den letzten Jahren und Jahrzehnten produziert worden sind.

„‘Deutschland, Deutschland, über alles, über alles in der Welt’, der erste Vers der damaligen Nationalhymne, 1954 in Bern historisch gesungen, kommt in ‘Das Wunder von Bern’ nicht vor“, bemängelte sogar die „taz“.

Lojewski: Wenn Regisseure sich für eine Art der Darstellung entscheiden, so ist das zu respektieren. Auch wenn in Details das eine oder andere historisch anders gewesen sein mag, so darf doch ein Kunstwerk für sich in Anspruch nehmen, nicht die „ganze Wahrheit“ zu zeigen, sondern einen Ausschnitt. Keine Sendung muß in sich ausgewogen sein, wie auch das Bundesverfassungsgericht in anderem Zusammenhang bestätigt hat. Wichtig ist nur, daß das Programm insgesamt den Meinungspluralismus, das ganze Spektrum widerspiegelt.

Und ist das der Fall?

Lojewski: Wenn ich Ihrem Verdacht folgte, so müßte man ja fast zu der Ansicht kommen, daß sich alle Regisseure verschworen haben, etwa um die Alliierten zu entlasten oder die Deutschen zu belasten. Von solchen Verschwörungstheorien halte ich nichts.

Die „Welt“ stellt fest: „‘Die Flucht’ hält sich mit der Schilderung russischer Greuel beim Einmarsch in Ostpreußen merklich zurück.“ Und fragt, ob „dagegen das Wüten des NS-Regimes etwas zu ausführlich ins Bild geraten“ ist? Regisseur Kai Wessel sagt über sich selbst, er komme „aus einer mehr linksliberalen Ecke“. Ist es da so abwegig, eine geschichtspolitische Manipulation der Zuschauer in Betracht zu ziehen?

Lojewski: Natürlich ist von der Auswahl bis zur Wortwahl alles subjektiv, was ein Medienschaffender tut. Bis zum Beweis des Gegenteils nehme ich jedoch stets lieber an, daß jeder durch das redliche Bemühen, der Wahrheit möglichst nahezukommen, am Ende zu einem fairen Gesamtbild beiträgt.

Sie haben eingangs dargestellt, wie sich der Umgang mit der Historie im Fernsehen aus technischen Gründen formatmäßig verändert hat. Sie waren ab 1969 bei den Öffentlich-Rechtlichen im Dienst. Wie hat sich die Geschichtsdarstellung dort inhaltlich verändert?

Lojewski: Eine Wende stellte in den sechziger Jahren der Frankfurter Auschwitz-Prozeß dar, von dem ich als junger FAZ-Reporter noch berichtet habe. Davor fand jüngere Geschichte im Fernsehen praktisch nicht statt.

Noch 1979 war es nicht möglich, die US-Serie „Holocaust“ in der ARD zu senden (nur in den Dritten), nicht zuletzt wegen des Protests des Bayerischen Rundfunks, bei dem Sie ab 1977 beschäftigt waren. Welche Auffassung von Geschichtsdarstellung herrschte dort damals?

Lojewski: Sehen Sie, zu meiner Schulzeit ging der Sohn von Hans Globke, Staatssekretär im Bundeskanzleramt, in die Parallelklasse. Wie Sie wissen, war Globke NS-belastet. Ich habe miterlebt, wie der Sohn darunter gelitten hat. Auch darunter, daß die Väter geschwiegen haben. Die Beschäftigung mit der jüngsten Geschichte setzte in der deutschen Öffentlichkeit erst ein, als nach dem Auschwitz-Prozeß eine junge Generation hartnäckig zu fragen begann.

Welche Aufgabe hat denn die Geschichtsdarstellung in den öffentlich-rechtlichen Medien?

Lojewski: Geschichtsdarstellung soll die Medienkonsumenten mit bestimmten historischen Situationen vertraut machen, die sich zwar so nie wiederholen werden, aus denen sich aber in ähnlichen Lagen gewisse Verhaltensweisen herleiten lassen.

Nach bürgerlicher Auffassung ist Geschichte das klassische Mittel zur Identitätsstiftung.

Lojewski: Ich bin nicht der Meinung, daß Geschichtsschreibung oder Journalismus unter dem Aspekt der politischen Wirkung betrieben werden sollte.

Sie halten unsere Medien für strikt neutral?

Lojewski: Neutrale Journalisten gibt es nicht, aber unparteiliche sollte es schon geben. Da entscheidet sich auch die Qualität des Journalisten.

Versuchen viele Fernsehjournalisten nicht durchaus Identität zu stiften – nur keine nationale, sondern eine „antifaschistische“?

Lojewski: Nein, das sehe ich nicht, und ich wiederhole: Fernsehen sollte weder das eine noch das andere tun.

Geben Sie bei Google die Begriffe „Flucht und Vertreibung“ und „ARD“ ein. Der erste Treffer, den Sie landen, das Geschichtsportal des Ersten, beginnt mit dem Satz: „Als Folge des vom ‘Dritten Reich’ begonnenen Zweiten Weltkriegs ...“ Hat das nicht mittlerweile den Charakter eines geschichtspolitischen Glaubenssatzes?

Lojewski: Natürlich gibt es auch den einen oder anderen Ideologen beim Fernsehen. Jedoch – noch einmal – ich halte Ideologie absolut nicht für die Intention unserer Fernsehmacher. Wenn Sie meinen, etwas anderes beobachten zu können, so kann ich Ihnen diese Ansicht nicht nehmen. Fragen Sie sich aber bitte auch einmal, ob nicht vielleicht gerade diese Annahme Ihrerseits ein Zeichen für politische Voreingenommenheit ist. Im übrigen, ist es etwa falsch zu behaupten, daß der Zweite Weltkrieg „vom ‘Dritten Reich’ begonnen“ wurde?

 

Prof. Dr. Günther von Lojewski: Der ehemalige Intendant des Senders Freies Berlin (SFB) ist Honorarprofessor für Kommunikationspolitik und Medienrecht an der FU Berlin. 1935 in Thüringen geboren, wechselte er 1969 von der FAZ als Chef der Nachrichtenredaktion zum ZDF, wo er das „Heute-Journal“ einführte. 1977 ging er zur ARD und moderierte das Nachrichtenmagazin „Report“ des Bayerischen Rundfunks. Von 1989 bis 1997 leitete er den SFB.

 

Stichwort „Zeitgeschichte im Film“: Nach dem Zweiten Weltkrieg interessierte den westdeutschen Film vor allem das Schicksal der Deutschen als Opfer von Nazis („Des Teufels General“, 1955) und Krieg („Die Brücke“, 1959). Nach den Frankfurter Auschwitz-Prozessen (1963/66) und der deutschen Ausstrahlung des US-Mehrteilers „Holocaust“ (1979) verschob sich das Interesse zugunsten der politischen Opfer („Die Geschwister Oppermann“, 1982), Antifaschisten („Rosa Luxemburg“, 1985), Mitläufer („Mephisto“, 1980) und tendenziöser Alltagsschilderungen („Die Blechtrommel“, 1979). Seit der 2002 durch die Bücher „Der Brand“ und „Im Krebsgang“ ausgelösten Opferdebatte wächst allmählich wieder die Wahrnehmung der Deutschen als Leidtragende des Krieges und seiner Nachwirkung.

 

Fotos: „Das Wunder von Bern“ (2003), „Die Flucht“ (2007), „Dresden“ (2006), „Der Rote Baron“ (2007), „Stauffenberg“ (2004), „Der Untergang“ (2004), „So weit die Füße tragen“ (2001)

 

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