© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 09/07 23. Februar 2007

"Die Flucht": Die ARD kann Maßstäbe setzen
Vermißte Normalität
Christoph Martinkat

Was vor Jahren als undenkbar galt, wird langsam Realität: Die Deutschen beginnen ein normales Verhältnis zu ihrer Geschichte zu finden, ohne Selbsthaß, Selbstmitleid und Schuldkomplex. Sichtbar wird dieser Wandel nicht nur an der Generation der Zwanzigjährigen, die während der Fußball- und Handball-WM ganz selbstverständlich Flagge zeigten, sondern auch in den jüngsten Kino- und TV-Großproduktionen, die sich mit tabuisierten oder bislang nur eindimensional behandelten Kapiteln deutscher Zeitgeschichte auseinandersetzen.

Neues Selbstverständnis im Umgang mit der Geschichte

Filme wie "Der Untergang", "Stauffenberg", "Sophie Scholl", "Dresden" oder "Das Leben der Anderen" - so anfechtbar sie im einzelnen auch sein mögen - sind dafür ein Beleg. Zudem stehen sie für das ernorm gestiegene Ansehen des deutschen Films im Ausland. So wurden in den letzten beiden Jahren "Der Untergang" und "Sophie Scholl" für die Oscar-Verleihung nominiert, in diesem Jahr ist es - mit noch besserer Erfolgsaussicht - "Das Leben der Anderen". Selbst der fragwürdige ZDF-Zweiteiler "Dresden" wurde von der Londoner Times mit respektvollem Unterton als Beispiel dafür angeführt, wie ernsthaft die Deutschen doch darum bemüht seien, ihre "schmerzvolle Vergangenheit im Film zu verarbeiten".

Wenn sich die heimische Filmbranche auf der Berlinale äußerst entspannt präsentierte, dann liegt das nicht zuletzt daran, daß ihre aufwendig produzierten Kriegs- und Nachkriegsdramen international stark nachgefragt werden. Selbst ein recht lauer Hollywood-Verschnitt wie "Dresden" wurde immerhin in 68 Länder verkauft, "Stauffenberg" in 82. Für den Spitzenwert sorgt allerdings ein anderer Film, das von der ARD koproduzierte düstere Epos "Der Untergang". Es ging in 145 Länder.

Die Verkaufszahlen machen es deutlich: Deutsche Zeitgeschichte im Filmformat ist ein internationaler Kassenschlager. Die Filme werden nicht mehr - wie noch vor Jahren - als innen- oder außenpolitisch heikel angesehen, sondern selbstbewußt auf dem internationalen Markt präsentiert. Sie künden vom neuen Selbstverständnis der Deutschen im Umgang mit ihrer Geschichte. Im Ausland würde man sagen, sie stehen für eine lange vermißte Normalität.

In das aktuelle Loblied auf "rein deutsche Geschichten", die "aus deutscher Sicht erzählt" werden, stimmen naturgemäß auch Produzenten wie Jan Mojto ein. Mojto, früher bei Kirch, ist Besitzer und Geschäftsführer der Firma EOS Entertainment, die sich auf millionenschwere internationale Koproduktionen auf dem Feld des Geschichtsdramas spezialisiert hat. So steht EOS etwa hinter dem aktuellen Fernseh-Zweiteiler "Die Flucht" (So./Mo., 4./5. März, jew. 20.15 Uhr, ARD) ebenso wie die Ufa-Tocher Teamworx, die bereits für Großprojekte wie "Dresden", "Stauffenberg" und "Sturmflut" verantwortlich zeichnete.

Für "Die Flucht" drehte Teamworx im Winter 2005/06 vier Monate lang in Litauen. Dort fand man bei Schnee und Eis und minus 20 Grad Außentemperatur die geeignete Kulisse vor, um die Wintertragödie 1944/45, die Massenflucht der deutschen Zivilbevölkerung aus Ostpreußen, eindrucksvoll nachzuzeichnen. Eine hochkarätige Filmbesetzung, über 2.100 Komparsen, 250 Pferdegespanne, bei einem Budget von zehn Millionen Euro - "Die Flucht" präsentiert sich wie sein ZDF-Vorgänger "Dresden" als deutsches TV-Projekt der Superlative. Und wie "Dresden" wird sich das ARD-Drama daran messen lassen müssen, wie glaubwürdig es sein Thema verhandelt: die Flucht und Vertreibung von 14 Millionen.

Die größte Herausforderung ihrer Karriere

Skepsis ist bei derlei hochambitionierten, mit einer Menge Vorschußlorbeeren bedachten Filmprojekten - der Fall "Dresden" zeigte es - durchaus angebracht. Schließlich stellte sich dieses als ein nur schwer genießbares, politisch überkorrektes Melodram vor einer digital hergerichteten Brandkulisse heraus.

Dennoch, auf das von Kai Wessel in Szene gesetzte Filmepos "Die Flucht" darf man wirklich gespannt sein. Zumal das kürzlich im ZDF ausgestrahlte dreiteilige Doku-Drama "Die Kinder der Flucht" (JF 50/06) bewiesen hat, daß dem lange tabuisierten Thema angemessen beizukommen ist.

"Flucht"-Hauptdarstellerin Maria Furtwängler ist sich der besonderen Verantwortung des Films vor dem Zuschauer bewußt. Sie bezeichnet die Rolle der ostpreußischen Adligen Lena von Mahlenberg als "größte schauspielerische Herausforderung ihrer Karriere" und erhofft sich eine breite Diskussion über das verfilmte Flüchtlingsdrama. Schließlich gehöre das darin Gezeigte zu den "schlimmsten Kapiteln der deutschen Geschichte".

Foto: Maria Furtwängler als Gräfin von Mahlenberg: In Verantwortung


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