© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 09/07 23. Februar 2007

Als Schulpolitik das Klima vergiftete
Vor einhundert Jahren kulminierte der Sprachenkonflikt zwischen dem Deutschen Reich und seiner polnischen Minderheit im Posener Schulstreit
Stefan Scheil

Der moderne Staat beansprucht, auf dem Weg über die Schulpolitik nivellierend und im besten Fall auch hebend auf das Bildungsniveau seiner Bevölkerung einwirken zu dürfen. Dazu dient das harte Instrument der Schulpflicht, das für Eltern nicht immer leicht zu ertragen ist, wie jeder weiß, der in Hessen, Schleswig-Holstein, Berlin oder anderen Bundesländern die unterschiedlichen Segnungen ideologisch ausgerichteter Bildungspolitik erleiden muß.

Entsprechend erbittert wurde und wird zwischen politischen Parteien um die Schulpolitik gekämpft. Besonders vergiftet ist der Streit aber dort, wo Kinder verschiedener Volksgruppen betroffen sind, wie dies im neugegründeten Deutschen Reich nach 1871 an seiner Peripherie der Fall war. Schule kann auf dem Weg über Unterrichtssprache und -inhalt die Kinder ihrer Herkunft entfremden und die Substanz dessen angreifen, was jeder in ihnen gern fortleben sehen will. So überrascht es nicht, wenn der ohnehin schwelende Dauerkonflikt zwischen preußisch-deutschen Behörden und der polnischen Bevölkerung gerade an diesem Punkt offen ausbrach.

Die Jahre nach 1873 hatten für die polnischsprachigen Kinder bereits einen Wechsel in den bisher geltenden Verhältnissen gebracht. Durch Erlaß des Oberpräsidenten für die Provinz Posen, den Hauptwohnsitz der polnischen Bevölkerung im Deutschen Reich, war am 27. Oktober Deutsch als allein verbindliche Unterrichtssprache eingeführt worden. Polnisch sollte nur noch als Hilfsmittel im Notfall verwendet werden. Einzige Ausnahme: Unterricht in Religion und Kirchengesang sollte polnischen Kindern in der Muttersprache erteilt werden. Allerdings sollte hier bei ausreichenden Kenntnissen ebenfalls die deutsche Sprache zum Zug kommen, worauf in der Praxis aber weitgehend verzichtet wurde. Eine breite Reaktion der polnischen Bevölkerung blieb deshalb zunächst aus.

In den nächsten fünfundzwanzig Jahren folgte aber eine zähe und anwachsende politische Auseinandersetzung. Die organisierte polnische Nationalbewegung wuchs, auch weil der deutsche Rechtsstaat ihrer Formierung keine größeren Hindernisse in den Weg legte als deutschen Vereinigungen auch. Eines Tages im Sommer 1899 war es dann soweit, sie warf den Fehdehandschuh hin. Im Posener Tiergarten fand eine Großdemonstration von zwanzigtausend Personen statt, angeführt von Fürst Czartoryski. Ihre Forderungen: ausschließlich polnischsprachiger Religionsunterricht, obligatorischer polnischer Sprachunterricht und: "Über die Nationalität der Kinder hat einzig der Wille der Eltern zu entscheiden."

Der nationale Streit wurde über die Kinder ausgetragen

Man hatte entdeckt, wie sehr sich das Thema "Kind" zur politischen Mobilisierung eignete. In der Praxis waren diese Forderungen eigentlich weiterhin fast gegenstandslos, da der katholische Religionsunterricht in der Provinz Posen immer noch nur in einem Viertel der Schulen ganz oder teilweise auf deutsch erteilt wurde, nämlich jenem Viertel der Kinder, bei denen es sich um katholische Deutsche handelte. In einigen Bezirken in Westpreußen wurden katholische deutsche Kinder aus pragmatischen Gründen auch beim örtlichen Pfarrer - auf polnisch - zur Kommunion vorbereitet. Da allerdings die Agitation gegen die offizielle Schulpolitik nun einmal in der Welt war, folgten rasch weitere Schritte. Eifrige deutsche Beamte machten sich auf, den polnischsprachigen Unterricht generell zu bekämpfen, und zwar auch dort, wo er kirchlich oder gar privat erteilt wurde. Um 1900 setzte eine Germanisierungspolitik ein, die zwar im rechtsstaatlichen Rahmen agierte, aber mit ihren Maßnahmen reichlich Material für weitere polnische Gegenagitation lieferte. Als besonderes Beispiel dafür diente die Verurteilung polnischer Eltern zu Gefängnisstrafen wegen Landfriedensbruch (Posener Schulprozeß 1901), die eine Schule wegen der dort herrschenden Deutschpflicht belagerten und daraufhin verhaftet wurden. Die politische Atmosphäre war vergiftet, der Streit wurde über die Kinder ausgetragen. Herzzerreißende und frei erfundene Geschichten über spontane Kleinaufstände, bei denen polnische Kinder ihren deutschen Peinigern entrissen worden waren, machten die Runde.

Als an Ostern 1906 in weiteren Schulen der deutschsprachige Unterricht eingeführt wurde, war die polnischsprachige Öffentlichkeit genug mobilisiert, um in den Streik zu gehen, den Posener Schulstreik, der sich regional aber auch auf Westpreußen und Oberschlesien erstreckte. Im Winter 1906/07 beteiligten sich über sechzigtausend Kinder daran, in Religion jede Antwort auf deutsch zu verweigern. Einen Höhepunkt erreichte der März 1907, als sich insgesamt 48.000 Schüler an dem Streik beteiligten. Es kam zu Ausschreitungen und Prügeleien, sogar ein - erfolgloser - Mordversuch an einem Lehrer wurde verzeichnet. Die polnische Nationaldemokratie sah den Zeitpunkt gekommen, hier die "Quelle der nationalen Wiedergeburt" sprudeln zu sehen. Morgen werde man in den Kampf um das Polentum als solches eintreten.

Für dieses Mal verebbte der Kampf noch nach fast einem Jahr im Herbst 1907. Reichstag und preußisches Abgeordnetenhaus debattierten zuvor im Frühjahr den Schulstreik, ohne ein Ergebnis zu erzielen. Die deutschen Behörden gingen mit der gesetzlichen Routine gegen die Verletzung der Schulpflicht vor. Die polnische Agitation und die häufigen Versammlungen, auf denen sie durchgeführt wurde, blieben dagegen erlaubt. Schulpolitik konnte hier keinen Frieden schaffen, wo er aus grundsätzlich anderen politischen Gründen nicht gewollt war. Auch Schule lebt von Voraussetzungen, die sie nicht selbst schaffen kann, ob in Posen oder in Hessen, Schleswig-Hostein und Berlin.


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