© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 08/07 16. Februar 2007

Pankraz,
der Frömmler und die Gretchenfrage

Eine ziemlich interessante Februar-Nummer hat die Berliner Zeitschrift Merkur zusammengebracht. Es geht darin um die "Frömmelei", die sich angeblich überall ausbreitet, um die "neue Religiosität", wie das in anderen Quartieren heißt. Der Merkur ist gegen diese neue Religiosität, seine Autoren (Hubert Markl, Rudolf Burger, Burkhard Müller) machen sich - maßvoll - darüber lustig und wiederholen alte Argumente von Atheisten bzw. Existentialisten.

Sie tun das immerhin mit Charme und Kenntnisreichtum. Doch warum die verächtliche Vokabel "Frömmelei"? Sicher, die berühmte Gretchenfrage ("Heinrich, wie hältst du's mit der Religion?") ist furchtbar "in", noch die dubioseste Talkshow wendet sich ihr zu. Aber gefrömmelt, also scheinheilig mit Goldschnittbildchen herumhantiert, wird gerade nicht. Man spürt Ernst und Ratlosigkeit. Der Normalbürger empfindet tatsächlich ein Bedürfnis nach Religion oder zumindest und zunächst einmal eine große Leere, die das Verschwinden der Religion aus seinem Alltag, ihre Ersetzung durch "Wissenschaft" und politische Utopien, in seiner Seele hinterlassen hat.

Die politischen Sozialutopien mit ihren billigen Verheißungen sind inzwischen alle niedergebrannt, und die Gewißheiten, die einst die Wissenschaft zu schaffen versprach, haben sich sämtlich als Pseudo-Gewißheiten herausgestellt. Nichts ist gewiß, so weiß inzwischen sogar der leidenschaftlichste Wissenschafts-Fan. Vor allem die sogenannten letzten Dinge, um die es der Wissenschaft ja immer ging, verharren unenträtselt im dunkeln.

Folgende Frage (eine Frage, die der Gretchenfrage gewissermaßen vorausgeht) erhebt sich nun freilich: Wenn wir nichts wissen können, wenn wir nur wissen, daß wir nichts wissen - brauchen wir dann die Religion, den Gottesglauben, um in Würde und Anstand leben und überleben zu können? Können wir uns nicht im Nichtwissen glaubenslos und tapfer einrichten?

Merkur-Autor Burger plädiert für ein Sich-Einrichten im Nichts, für tapferes Ausharren vís-à-vis de rien. Sich keine Illusionen machen und trotzdem anständig bleiben, keine Gemeinheiten begehen, sich immer "strebend bemühen", wie es am Ende des "Faust" so schön heißt - einzig dies und nichts anderes sei eines modernen Intellektuellen würdig. Wer weiß, daß er nichts weiß, könne durchaus ein guter Wissenschaftler bleiben, wie nicht zuletzt das Lebenswerk des verstorbenen Karl Raimund Popper, des großen Wissenschaftstheoretikers, überzeugend vordemonstriere.

Popper sagte, das Ziel des Wissens sei nicht das Verifizieren, das Die-Wahrheit-Herausfinden, sondern das Falsifizieren, das Den-Irrtum-Herausfinden. Die Wahrheit gebe es ja nicht, just im Behaupten der Wahrheit entstehe der Irrtum, entstünden die unendlich vielen Irrtümer, die sich als Wahrheit ausgeben. Diese Schein-Wahrheiten zu falsifizieren - das, sagt Popper, sei ein höchst ehrenvolles und notwendiges Geschäft, welches am Ende sogar doch eine Art Wahrheitsbegriff aufleuchten lasse. Denn wenn wir unermüdlich und mit größter Gewissenhaftigkeit falsifizieren, vollführen wir eine Kreisbewegung, wir umkreisen etwas, indem wir uns von ihm fernhalten und es in seinem Geheimnis unangetastet lassen. Dies Geheimnis ist also dann die Wahrheit, die einzige "Wahrheit" (in Gänsefüßchen), die es geben kann.

Ist solches Argumentieren aber überhaupt noch Wissenschaft? Oder ist es reiner Glaube, wo nur die Vokabel "Gott" durch die Vokabel "Geheimnis" ausgetauscht worden ist? Pankraz neigt dazu zu sagen: Natürlich ist das Glaube, nicht Wissenschaft, was immer man unter dieser verstehen mag. Popper steht ja deutlich in der Tradition großer dissidentischer Glaubenslehrer des alten Judentums, und die waren in erster Linie Theologen, Gottesgelehrte, die das Nichts von vornherein ganz eng an Gott heranführten.

Wenn wir nur Negatives über die Wahrheit Gottes aussagen können, so sinniert Maimonides (1135-1204), einer jener Dissidenten, was bleibt dann von Gott übrig, außer daß wir eben Negatives über ihn aussagen? Gott ist hier in einer geradezu verzweifelten Weise von uns, von unserem Negativdenken, abhängig. Wir erschaffen ihn geradezu durch unsere Negativität.

Andererseits - indem wir ihn erschaffen, werden wir uns erst unserer eigenen Kraft und Tiefe, der Kraft und Tiefe unseres Herzens, bewußt. Gott und Mensch sind in einer vertrackten Weise aufeinander angewiesen. Gott ist das Sein, aber er ist nur deshalb nicht Nichts, weil er von uns mit Negativität umkreist wird. So sehr uns die Einsicht erschüttern mag: Verbindung, Vermählung mit Gott, soweit denkbar, ist seine Verneinung. Doch jede derart aufgeladene Verneinung ist Vermählung mit Gott.

Nicht nur altjüdische Dissidenten, sondern auch christliche Mystiker, von Meister Eckardt bis Pascal und Kierkegaard, haben in dieser Richtung nachgedacht. Man ersieht daraus: Selbst die angestrengteste Orientierung am puren Nichts führt über eine absurde Schleife geradewegs in den Glauben hinein. Je seriöser wir über das Nichts nachdenken, um so intensiver wird uns klar, daß wir an das Nichts wie an einen Gott glauben müssen, um ehrlich mit ihm umgehen zu können. Am Anfang jeglicher menschlicher Weltorientierung, so lernen wir, steht immer (immer!) der Glaube.

Das, was wir glauben, mag - am Anfang unseres Erdenwandels wenigstens - dem Zufall anheimgegeben sein, mag abhängig sein von Ort und Zeit unserer Geburt und unserer stammesgeschichtlichen Prägung; aber daß wir glauben, ist nicht zufällig, es ist das Gesetz unseres Lebens, und wenn wir ihm fernrücken, so spüren wir das über kurz oder lang. Uns fehlt dann etwas. Wir sind nur noch halbe Menschen.

Auch das neue Merkur-Heft vermag uns über diesen Verlust nicht hinwegzuhelfen, im Gegenteil, es vertieft das Gefühl der Leere nur. Es läßt uns nach Surrogaten Ausschau halten. Man möchte nach Lektüre von Merkur Nr. 694 fast zum Frömmler werden.


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