© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 06/07 02. Februar 2007

Verwirrung im Lager der Menschlichkeit
Vor siebzig Jahren erreichten die Schauprozesse im Zuge der stalinistischen "Säuberung" ihren Höhepunkt
Thorsten Hinz

Nicht nur gläubige Kommunisten gerieten vor siebzig Jahren in tiefste Verwirrung. Wenn man ernst nahm, was von den "Moskauer Prozessen" an die Öffentlichkeit drang, dann hatte der Siegeszug der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution fast zwanzig Jahre lang vor allem darin bestanden, sich selber unmöglich zu machen und zu zerstören. Denn wie sollte man es sonst verstehen, daß die gesamte revolutionäre Garde der ersten Stunde, Lenins Getreue, sich als Söldlinge des Imperialismus bekannte?

Der Begriff "Moskauer Prozesse" bezeichnet vor allem vier Verfahren: Den "Prozeß der 16" im August 1936 gegen Lew Kamenew, Grigori Sinowjew und andere, der "Prozeß der 17", der im Januar 1937 stattfand und dessen prominentester Angeklagter Karl Radek war; der "Prozeß der 21" gegen Nikolai Bucharin und nochmals Radek, der seinen ersten Prozeß überlebt hatte. Diese Verfahren wurden öffentlich geführt, als Schauprozesse. Hinzu kam im Juni 1937 ein Geheimprozeß gegen eine Reihe von Generälen, an der Spitze Marschall Michail Tuchatschewski. In seinem Fall hatte Reinhard Heydrich über Prag falsche, belastende Informationen nach Moskau lanciert. Die Angeklagten wurden beschuldigt, Mordpläne gegen Stalin und weitere Politbüromitglieder gehegt zu haben. Von Anfang an seien sie Spione des Westens gewesen, hätten Absprachen mit den Nationalsozialisten getroffen, die Zerstückelung des Landes vorgesehen usw. Angesichts der hohen Positionen, die die Angeklagten über viele Jahre innegehabt hatten, konnte ihre Erfolglosigkeit nur verwundern. Von den 66 Angeklagten wurden 50 zum Tode, die anderen zu Freiheitsstrafen verurteilt. Dabei waren die Prozesse nur das propagandistische Sahnehäubchen eines Massenterrors, der das ganze Land erfaßte und in Angst versetzte.

Nur die propagandistische Spitze des Massenterrors

Für zusätzliche Verwirrung sorgte, daß die Angeklagten sich durchweg zu ihrer Schuld bekannten. Gewiß, sie waren gefoltert worden oder hatten Furcht um ihre Angehörigen. Aber das erklärte nicht die Emphase der Schuldbekenntnisse, die übrigens die einzige Grundlage für die Urteile waren. Und vor allem ließ sich nicht begründen, welchem rationalen Zweck die Verfahren dienten. Konnten allein Stalins Paranoia und Machthunger eine so gewaltige Terrormaschine antreiben? Vielleicht ist der Schriftsteller und Ex-Kommunist Arthur Koestler in seinem Roman "Sonnenfinsternis", der 1941 erschien, der Logik der Prozesse und dem Verhalten der Angeklagten am nächsten gekommen. In der Hauptfigur des Alt-Revolutionärs Rubaschow fließen die Eigenschaften mehrerer Angeklagter zusammen. Der Untersuchungsrichter hat an seiner Treue zur Partei gar keinen Zweifel, doch gebe es Unzufriedenheit im Land, die Volksmassen begriffen die Politik nicht, was im Kriegsfall zur Katastrophe führen könne. "Daher die absolute Notwendigkeit für die Partei, gereinigt dazustehen. Sie muß aus einem Guß sein, ein einziger Block, gefüllt mit blinder Disziplin und absolutem Vertrauen. Sie und Ihre Freunde, Bürger Rubaschow, haben einen Riß im Körper der Partei verursacht. Wenn Ihre Reue echt ist, dann müssen sie uns helfen, diesen Riß zu heilen. (...) Genosse Rubaschow, ich hoffe, daß Sie die Aufgabe, die die Partei Ihnen setzt, verstanden haben." Die Ansprache als Genosse läßt in Rubaschow "eine heiße Welle emporsteigen", gegen die er "wehrlos" ist. Danach ist er zum Selbstopfer bereit.

Die Prozeß-Kommentare kommunistischer und anderer Linksintellektueller bieten bis heute reichlich Stoff für Betrachtungen über humanitaristische Menschenverachtung. Besonders tat sich Lion Feuchtwanger hervor, der den ersten Schauprozeß gegen Karl Radek und Genossen besuchte. Es war "eine Diskussion, geführt im Konversationston, von gebildeten Männern geführt, die sich bemühten, festzustellen, welches die Wahrheit war", schrieb er in seinem 1937 erschienenen Rußland-Buch.

US-Botschafter zeigte sich nicht besonders beunruhigt

Doch auch westliche Demokraten reagierten wenig anders. Joseph E. Davies war Ende 1936 von Roosevelt als US-Botschafter nach Moskau geschickt worden. Er sollte den Handel ankurbeln und sich um freundschaftliche Beziehungen zu Rußland bemühen, insbesondere wegen des chinesisch-japanischen Konflikts und eines möglichen Kriegs in Europa, den der Präsident schon damals für unvermeidlich hielt.

Davies blieb bis zum Sommer 1938 in der sowjetischen Hauptstadt, konnte also die Prozesse bis zum Ende mitverfolgen. Wie aus seinem Buch "Mission to Moscow" hervorgeht, beunruhigten sie ihn nicht sonderlich. Für ihn war wichtig, daß die Sowjetunion ihre US-Importe um ein Drittel erhöhte. Er knüpfte gute Beziehungen zu Außenminister Maxim Litwinow und nahm dessen Propagandabegriff eines "faschistischen Friedens" auf, den die Demokratien einschließlich der Sowjetunion verhindern müßten.

Davies war dafür, das russische Potential zu nutzen, um Hitler vom Osten her unter Druck zu setzten. Und er beschwichtigte die Mißtrauischen: "Dieses Regierungssystem ist nicht Bolschewismus, es ist Sozialismus." Er sah das Elend in Rußland, wußte von den blutigen Exzessen und Massenverhaftungen, von den Plünderungen der Kirchen - und kaufte davon Ikonen und Reliquien ein, für die ihm die sowjetische Regierung eine Ausfuhrgenehmigung erteilte. Er wies auf die Vorteile hin, die Stalins Politik bot: Trotzki habe die Weltrevolution vorantreiben wollen, Stalin dagegen beschränke sich auf den Aufbau des Sozialismus im eigenen Land. Seine Bedrohungsszenarien seien ein wirksames Mittel, um die an der Macht befindliche Partei zu stärken. Jedenfalls war der stalinistische Terror kein Hindernis für künftige antifaschistische Bündnisse.

Der Ankläger Andrej Wyschinski, dessen Beschimpfung der Angeklagten als "tollwütige Hunde" weltberühmt wurde, gehörte wenige Jahre später als stellvertretender Außenminister seines Landes zu den aktivsten Wegbereitern des Nürnberger Prozesses. Am 30. November 1945 brachte er bei einem interalliierten Abendessen mit dem amerikanischen Chefankläger Robert H. Jackson einen Vorab-Toast auf die Hinrichtung aller Angeklagten aus. Er hatte so seine Erfahrungen.

Foto: Stalin inmitten seiner Getreuen 1936 in Moskau, erste Reihe von links Nikita Chrustschow, Andrei Schdanow, Lassiv Kaganowitsch, Kliment Woroschilow, Wjatscheslaw Molotow, Michail Kalinin und Marschal Michail Tuchatschewski. Dahinter sitzen auch zwei spätere Opfer der Schauprozesse, Georgi Malenkow (zweiter von links) und Nikolai Buganin (fünfter von links): "Eine Diskussion, geführt im Konversationston von gebildeten Männern", notierte Lion Feuchtwanger


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