© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 06/07 02. Februar 2007

LOCKERUNGSÜBUNGEN
Augenmaß
Karl Heinzen

Zehn Prozent aller Lehrkräfte an deutschen Universitäten repräsentieren die sogenannten geisteswissenschaftlichen Disziplinen, für die allerdings immer noch 25 Prozent der Studierenden eingeschrieben sind. Da das beschauliche Humboldtsche Bildungsideal als Legitimation für Zeitverschwendung und Wolkenkuckucksheime nicht mehr akzeptiert wird, sind die wirtschaftsfernen Fächer im Hochschulbetrieb schon seit längerem auf dem Rückzug. Wären sie nicht in so großer Zahl von Frauen favorisiert, hätte man sie womöglich noch radikaler an den Rand gedrängt.

Zu dieser plausiblen Entwicklung will es auf den ersten Blick nicht so recht passen, daß Bundesforschungsministerin Annette Schavan 2007 ausgerechnet zu einem Jahr der Geisteswissenschaften erklärt hat. Befürchtungen, die Christdemokratin könnte aus einer plötzlichen Anwandlung abendländischer Sentimentalität heraus den Versuch unternehmen, das Ruder herumzureißen, muß jedoch niemand hegen. Es geht ihr ausschließlich darum, daß vor lauter Begeisterung, den Universitäten endlich das l'art pour l'art austreiben zu dürfen, das Augenmaß für den ökonomischen Nutzen auch von Fächern, denen man einen solchen nie zugetraut hätte, nicht verlorengeht. Die Ministerin macht dies am Beispiel der Afrikanistik deutlich, die viele voreilig als "Orchideenfach" denunzieren würden. Das Potential, das im afrikanischen Kontinent stecke, zeige jedoch, daß man es sich mit dieser abschätzigen Beurteilung zu einfach mache.

Diese Argumentation ist in der Tat bedenkenswert. Viele Unternehmen wollen an fremden Kulturen verdienen, indem sie sich zum Beispiel deren Bodenschätze aneignen oder billige Arbeitskräfte aus ihnen ziehen. Je besser sie diese Kulturen begreifen, desto effektiver können sie ihre Profitziele verfolgen. Zu diesem besseren Verständnis vermögen akademisch ausgebildete Spezialisten einiges beizutragen. Sogar unter Militärs setzt sich weltweit immer mehr die Erkenntnis durch, daß interkulturelle Kompetenz eine Schlüsselqualifikation ist, um eine Besatzungsherrschaft erfolgreich aufrichten zu können.

In Deutschland als kriminalgeschichtlichem Sonderfall gilt es darüber hinaus, nicht allein auf ökonomischem Nutzen, sondern auch auf historischer Verantwortung für das, was geschehen ist, zu beharren. Wohl in diesem Sinn weist Annette Schavan den Geisteswissenschaften die Aufgabe zu, als "Gedächtnis des Landes" zu fungieren. Studierende dürfen darauf vertrauen, daß für diesen Zweck immer Mittel des Staates bereitgestellt werden.


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