© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 05/07 26. Januar 2007

Stille Post über den Anmerkungsapparat
Ungenügende Quellenkritik leistet immer wieder der Verbreitung zeithistorischer Fälschungen oder gar regelrechter Räuberpistolen Vorschub
Hans Joachim von Leesen

Es ist immer angebracht, Zeitschriftenaufsätze und Bücher über unsere jüngste Geschichte auf ihre Glaubwürdigkeit zu prüfen, erscheint doch zu vieles wissenschaftlichen Ansprüchen kaum genügend. Häufig werden Aussagen allein als seriös und fundiert bewertet, wenn in Fußnoten und Anmerkungen Quellen genannt werden. In der Regel aber ist es unmöglich, auch noch diese Quellen zu prüfen, zumal solche Anmerkungen sich selbst auf Sekundärquellen beziehen.

Noch brisanter wird es, wenn sich auf reinen Übersetzungsfehlern Falschaussagen konstruieren. Beispielhaft mag das 2005 von der amerikanischen Historikerin Dagmar Herzog veröffentlichte Buch "Sex and Fascism - Memory and Morality in Twentieth Century Germany" dienen, das bald darauf in Deutschland beim Siedler-Verlag unter dem Titel "Die Politisierung der Lust. Sexualität in der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts" herauskam. Aufmerksamkeit erhielt das Buch auch wegen der Behauptung, die Machthaber des Dritten Reiches hätten die Deutschen zu sexuellem Vergnügen animiert; mit dem entsprechenden Zitat aus der deutschen Übersetzung waren viele Rezensenten schnell bei der Hand. Danach hätten 1934 "die Führerinnen im Bund Deutscher Mädel 'streng geheim' die Anweisung erhalten, ihre Schützlinge zum vorehelichen Geschlechtsverkehr zu ermutigen". Das war in der Tat erstaunlich, immerhin hatte man bislang den Nationalsozialisten eher Prüderie und Verklemmtheit vorgeworfen, die erst mit der sexuellen Befreiung im Zuge der 68er-Bewegung überwunden wurde.

In der FAZ konnte Dietmar Dath (21. Oktober 2005) allerdings die vermeintliche Sensation allein mit einem Blick in die amerikanische Originalausgabe widerlegen. Statt "Geschlechtsverkehr" spricht die amerikanische Historikerin nämlich von "love affairs", also Liebesbeziehungen, und das ist nach mitteleuropäischem Verständnis nun doch etwas anderes. Als Dath auch nach der Quelle dieser Behauptung forschte, gelangte er mit Hilfe des Bundesarchivs zu einem hektographierten Pressedienst für die Hitler-Jugend-Presse. In ihm gab es tatsächlich unter dem 1. Juni 1934 einen Text, der den Inhalt eines Artikels aus der Feder einer BDM-Führerin Lydia Gottschewski zusammenfaßt: "Durch den Mädelbund bekommt das Mädel einen ihr bisher verschlossenen neuen wesenhaft weiblichen Bereich. Das Liebeserlebnis verliert den Charakter der Ausschließlichkeit, wird dadurch in seinem Wert als Liebe, die Schicksal ist, gesteigert." Und daraus werde eine deutliche Abkehr "von jener entsetzlichen Verniedlichung und Verharmlosung der Liebe, die gerade die seelisch kraftvollsten Mädchen immer wieder in die Vereinsamung treibt und daran hindert, ihre Aufgabe zu erfüllen: Ahnfrauen neuer Geschlechter zu sein". Das ist genau das Gegenteil von dem, was die deutschen Übersetzer in Herzogs Buch hineingefälscht haben.

Mutmaßungen werden rasch zu feststehenden Tatsachen

Derartige Umdeutungen, deren Aufklärung eigentlich Aufgabe staatlich besoldeter Historiker wäre, findet man eher zufällig, aber allenthalben. So liest man in einem Buch "Bombenkrieg gegen Deutschland" des in der DDR führenden Luftkriegshistorikers Olaf Groehler über die Einäscherung von über 6.000 Opfern der anglo-amerikanischen Bombenangriffe auf Dresden, sie sei "bezeichnenderweise von einem SS-Spezialkommando aus Treblinka durchgeführt (worden), das über einschlägige Erfahrungen bei der Beseitigung von Leichen verfügte".

Als Quelle verweist Groehler auf das von Karl Dietrich Bracher, Manfred Funke und Hans-Adolf Jacobsen 1983 herausgegebene Buch "Nationalsozialistische Diktatur", in dem es heißt, die Verbrennungen seien von "ukrainischen Hilfswilligen durchgeführt. Es handelte sich dabei um die neuformierte Mannschaft des früheren SS-Ausbildungslagers Trawnike, und es ist ziemlich sicher, daß sich darunter auch frühere Wachmannschaften der Vernichtungslager befanden, die über einschlägige Erfahrungen verfügten." Der Autor gibt lediglich eine Vermutung oder ein Gerücht weiter. Bei Groehler ist daraus eine feststehende Tatsache geworden.

Ähnlich die heute als Faktum verbreitete Behauptung, während des Krieges seien schwerverwundete deutsche Soldaten im Rahmen der Euthanasieaktion umgebracht worden (JF 28 /01). Die Legende geht zurück auf die von der britischen Psychologischen Kriegführung unter Sefton Delmer verbreitete Parole, wie Delmer es in seinen Erinnerungen "Die Deutschen und ich" schilderte. Zum anderen beruft man sich auf vage Andeutungen Ernst Klees in seinem Buch "Euthanasie im NS Staat", der über keinerlei Unterlagen verfügt, sondern lediglich die Passage eines Briefes eines an der Euthanasie beteiligten Arztes an seine Frau vom Januar 1942 wiedergibt. Darin heißt es, er sei "zusammen mit anderen Ärzten im Kampfgebiet der Ostfront" eingesetzt, "um an der Bergung von Verwundeten in Eis und Schnee zu helfen", eine Tätigkeit, die angesichts des überaus harten Rußlandwinters plausibel ist.

Klee aber faßt den Satz zusammen mit Gerüchten, eine Schwester habe in der Anstalt Kaufbeuren "acht verwundete Soldaten abgespritzt und weggeräumt". Eine andere "Quelle" ist die Ehefrau eines Heizers, die gehört habe, daß eine Schwester an der Ostfront Spritzen gegeben habe, an denen Soldaten schmerzlos gestorben seien. Seitdem geistert das Gerücht, schwerverwundete Wehrmachtssoldaten seien im Rahmen der Euthanasie ermordet worden, als historische Tatsache durch einschlägige Literatur, und stets ist als Quelle das Buch von Klee angegeben.


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