© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 05/07 26. Januar 2007

Unser Tabu, euer Tabu
Deutsch-polnische Gruppentherapie: Das Theaterstück "Transfer!" arbeitet Traumata der Vertreibung auf
Michael Hofer

Nach einer Flut von TV-Dokumentationen, Ausstellungen und Bucherscheinungen in den letzten Jahren scheint das Schweigen über Flucht und Vertreibung der Deutschen aus dem Osten endgültig gebrochen zu sein. Anläßlich der ARD-Produktion "Die Flucht" läßt sich nun auch schon auf Thomas Gottschalks Couch in "Wetten, daß ..." über das heikle Thema plaudern. Filme wie Hans-Christoph Blumenbergs ausgezeichneter Dreiteiler "Kinder der Flucht" zeigen eine Tendenz zur Sprengung der starren politischen Diskurszwänge über den emotionalen und allgemein menschlichen Aspekt der Tragödie. Tauwetter zieht allmählich auch jenseits der Oder auf, wo reziproke Tabus bisher ebenso den Blick auf die historische Wahrheit verstellten.

Ein Zeichen dafür mag der Erfolg des in Breslau produzierten Theaterstücks "Transfer!" von Jan Klata sein, das vom 18. bis 20. Januar in Berlin gastierte. Neun deutsche und ostpolnische Vertriebene erzählen in diesem semidokumentarischen Stück jeweils in ihrer Muttersprache fragmentarisch aus ihrem Leben. Über ihnen thronen in einer Art Hebebühnen-Jalta die Streichholzverschieber Churchill, Roosevelt und Stalin, die als zynisch-arrogante Cäsaren gezeichnet werden. Die Verhandlungen der "großen Drei" setzen den sarkastischen Kontrapunkt zu den berührenden Erzählungen der Vertriebenen. Zwischendurch greifen die Herren von Jalta immer wieder zur E-Gitarre, um per Playback Songs der legendären Gruppe Joy Division zum besten zu geben: "I've seen the nights full of bloodsport and pain, and the bodies obtained, the bodies obtained!"

"Meine Eltern hatten keine Schuld!" darf eine Frau sagen

Ein Regieeinfall, der typisch ist für den erst 33jährigen Regisseur Jan Klata. Der in seiner polnischen Heimat ebenso umstrittene wie als Wunderkind gefeierte Künstler hat ein sicheres Gespür für die Kontroverse. Zu seinen bisherigen Arbeiten zählen Inszenierungen nach Anthony Burgess, Philip K. Dick und André Gide ebenso wie eine "Hamlet"-Aufführung in der Danziger Schiffswerft. Ein Stück nach Stanislaw Witkiewicz, in dem zackige deutsche Geschäftsmänner die moderne Version der Ordensritter mit ihrem "Drang nach Osten" abgeben, nahm kritisch das Projekt der Europäischen Union und eingefleischte antideutsche Ängste aufs Korn.

Interessanterweise sehen manche das "Enfant terrible" des polnischen Theaters mit dem charakteristischen Irokesen-Haarschnitt eher rechts von der Mitte - so war Jan Klata Talkshow-Produzent bei einem dezidiert katholischen Fernsehsender. Ähnlich seinem deutschen Kollegen Hans-Jürgen Syberberg nennt der leidenschaftliche Wahl-Niederschlesier und Breslauer Lokalpatriot Klata die Vertreibung eine "griechische Tragödie"; sein Stück "Transfer!" scheint durchaus die Meinung zu vertreten, deren Aufarbeitung sei zu wichtig, um sie den Politikern zu überlassen.

Die selbstherrlichen Machthaber fällen in "Transfer!" im Handumdrehen Entscheidungen, die Millionen kleiner Leute unter ihnen ausbaden müssen. Typisch polnisch und gerade für den deutschen Zuschauer erfrischend ist dabei der Hohn, den der Regisseur auch den westlichen Siegermächten zugedacht hat. Dem heuchlerischen "Blabla" der Tyrannen stellt Klata die berührenden Erzählungen der Zeitzeugen gegenüber. Dabei ist das Maß an Verständnis und Fairneß, das er den Deutschen entgegenbringt, erstaunlich. Der Nationalsozialismus ist in deren Erinnerungen zwar stark präsent, er wird jedoch nicht als "Anklage" gegen die Protagonisten ausgespielt. "Meine Eltern hatten keine Schuld!" darf eine Frau sagen, die immer wieder aus den zärtlichen Briefen ihres gefallenen Vaters an die Mutter vorliest.

Klata kritisiert oder hinterfragt die Aussagen der vertriebenen Polen und Deutschen auf der Bühne nicht, sondern läßt ihre subjektiven Wahrheiten im Raum stehen. So wird das Stück beinahe zu einer deutsch-polnischen Gruppentherapie, in der die Traumata des Krieges durch Erzählen und Nachspielen aufgearbeitet werden. Die vorgetragenen Erinnerungen berühren unter anderem Kindheit und Jugend im polnischen Untergrund und deutschen NS-Organisationen, die Schrecken des Krieges, Massaker an Juden, Anekdoten um einen Hund namens Stalin, das Überleben in der "Festung Breslau" und den winterkalten Wäldern auf der Flucht, das Totschweigen der deutschen Vergangenheit der jungen Westgebiete Polens sowie die Massenvergewaltigungen der Roten Armee - sogar polnische Nachkriegslager für Deutsche finden Erwähnung.

Dem stellt Klata einen "modernen" jungen Deutschen der Wohlstandsgesellschaft gegenüber, der als dauermobiler Ahasver nach einem Lebenssinn und einer Heimat sucht. "Sportschuhe, Yoga-DVD, Netzkabel, Laptop, CDs, Kondome, Kosmetiktasche, Baseballhandschuh mit Ball .... Das ist in meinem Koffer, und das ist meine Heimat." Der zeitgenössische Deutsche als schwächlicher, identitätsloser Nomade, als "Vertriebener" am eigenen Ort mit gestörtem Verhältnis zu sich selbst und der eigenen Geschichte: Das ist von den polnischen Autoren mit verblüffender, teilnahmsvoller Klarheit gesehen und wird wohl manchen Radio-Marija-Hörer überraschen, der "den Deutschen" immer noch als Herrenmenschen in SS-Uniform und Ordensritterkluft sieht und fürchtet.

In diesem Sinne versuchte eine Senatorin der "Recht und Gerechtigkeit"-Partei (PiS) das Stück schon in der Produktionsphase zu verhindern; der Premiere am 18. November in Breslau blieb sie indes fern. Die Kritiken fielen insgesamt eher zwiespältig bis distanziert aus. Klata könne den Gegensatz zwischen "Wir und Ihr" letztlich nicht aufheben.

Das wäre wohl auch zuviel verlangt. Diese geistige Oder-Neiße-Linie des "Wir und Ihr" anzuerkennen, wäre aber vor allem Aufgabe der Deutschen, denen man ihr geschichtliches "Ich" geraubt hat. Dies in krassem Gegensatz zu den Polen, in deren Nationalbewußtsein etwa die Ergebnisse der Jalta-Konferenz einhellig als Verbrechen eingestuft werden - wozu auch die Deutschen allen Grund hätten. Deren Unfähigkeit oder Feigheit, die eigene Perspektive einzunehmen, geht zu Lasten ihrer selbst, ihrer eigenen Wahrheit, ihrer Toten und Geschändeten. Wahre Nebelkanonen werden hier aus Bußfertigkeit oder mit gutgemeinten Vorsätzen angeworfen. So stellte der mißglückte dritte Teil von "Kinder der Flucht" ausgerechnet das Schicksal einer Familie polnischer Zwangsarbeiter, die auf ihre Befreiung hofft, in den Mittelpunkt der Schilderung von Breslaus Untergang.

Auch angesichts von "Transfer!" wird deutlich, daß einer Verständigung zwischen Deutschen und Polen nicht etwa konträre Geschichtsbilder entgegenstehen, sondern die Übernahme ein und desselben Bildes. In Polen war die Darstellung deutscher Opfer tabu, und in Deutschland war die Darstellung deutscher Opfer tabu. Der Ausgleich, den die Deutschen sich selbst schuldig sind, ist anders geartet als jener, den die Polen sich selbst schuldig sind. Daß man ohne Verbiegung "Ich" sagen kann, aber dennoch die Sicht des anderen achten, könnten sie gerade von mutigen polnischen Künstlern wie Jan Klata lernen.

Fotos: Churchill (W. Cichy), Stalin (P. Bluszcz), Roosevelt (Z. Kuzniar): Hohn für die Herren von Jalta; Karolina Kozak (vorn), Angela Hubrich: Subjektive Wahrheiten


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