© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 04/07 19. Januar 2007

Cyberspace: Die vielschichtige Erfolgsgeschichte eines Schlagworts
Halluzination des Zeitgeistes
Erol Stern

Eigentlich wollte Science-Fiction-Autor William Gibson seine Wortschöpfung "Dataspace" taufen, doch dann entschied er sich für ein Wort zusammengesetzt aus dem englischen Cyber (vom griech. Kybernetike - "Kunst des Steuermanns") und Space (engl. für Raum). Während die meisten Schlagworte eher zufällig entstehen, war es von Anfang an seine Absicht, ein Modewort zu kreieren, wenngleich die kulturelle und kommerzielle Erfolgsgeschichte des Begriffes seine Erwartungen übertraf. Füttert man Suchmaschinen mit der Vokabel, erhält man über 28 Millionen Treffer, was nur einen kleinen Einblick in dessen Tragweite gewährt.

Der Ausdruck transportiert neben dem prägnanten Klang alles, was sich um neue Technologien dreht. War der Terminus für den Erfinder eher literarisches Mittel, entdeckten Marketing und Industrie ihn als allumfassendes Prädikat und Synonym. Eingeführt 1982 in der Kurzgeschichte "Burning Chrome", diente er erst der Umschreibung eines künstlichen, von Computern geschaffenen Raumes, zu dem man auf mannigfaltigsten Wegen Zugang erlangt.

William Gibson skizziert den Cyberspace als "konsensuelle Halluzination eines computergenerierten grafischen Raums". In seiner Neuromacer-Roman-trilogie erzeugen die Menschen den Cyberspace - auch als "Matrix" tituliert - selbst, indem sie sich über neuronale Adapter an Computernetze stöpseln.

Während in der SF-Literatur und ihrem cineastischen Pendant die Verbindung Mensch/Computer bevorzugt über Implantate erfolgt, trumpfte die Industrie mit Helmen, Brillen und ganzen Anzügen auf, so daß man Anfang der neunziger Jahre noch annehmen mußte, bald weniger über die Kompatibilität Rechner/Rechner als vielmehr Mensch/Computer nachdenken zu müssen.

Glücklicherweise verschwanden diese zumeist unfreiwillig komischen und technisch unausgereiften Gimmicks schnell wieder in der Schublade der Erfolglosigkeit ebenso wie die vormals omnipräsenten Loblieder auf die dreidimensionalen Darstellungen von Räumen und Gebäuden ("Virtuelle Realität"), welche dank Spieleindustrie, Hollywood (Stephen Kings "Der Rasenmähermann", 1992) und Computer-animationen das Leben nur vereinfacht haben, ohne es zu verändern.

Andere Wege gingen die Filme "Tron" (1982) und "Max Headroom" (1984), deren Protagonisten komplett vom Computer "aufgesaugt" wurden und fortan als virtuelle Existenzen umherwandelten. Die Brücke von der Einverleibung des Menschen durch den Computer zu dem physikalischen Anschluß an selbige schlug ab 1999 die Filmtrilogie "Matrix", in der die Menschheit komplett in einer künstlichen Realität lebt, um von ihrem Schicksal als Energielieferanten für ein Netzwerk künstlicher Intelligenzen abgelenkt zu werden.

Eine weder schlechtere noch bessere Welt

Die begriffliche Entwicklung des Cyberspace umfaßt auch die Welt des Cyberpunk. Geprägt durch die Einflüsse von Punk-Subkultur, nuklearem Holocaust und postapokalyptischen Endzeitszenarien, etablierte sich um Gibson ein Genre als weltanschauliche Evolutionsstufe, welches abseits gängiger Utopien weder steril noch glänzend, sondern dunkel und brutal daherkam - wie Kubricks "Uhrwerk Orange" mit technoider Ausprägung.

Aufkeimend in den späten Siebzigern, reflektierte die Bewegung den Protest gegen die Globalisierung und Technisierung einer urbanisierten Welt, in deren Ohnmacht Staaten ihre Macht zugunsten multinationaler Konzerne abgeben und die ökonomisch-politische Sicherheit des Einzelnen dem Konsum und Profit opfern.

Das Versprechen einer besseren Welt durch Fortschritt entpuppte sich als große Lüge der Informationsgesellschaft, Technologie mutierte zum Überwachungsinstrument und Mittel der medialen Gleichschaltung. Gleichzeitig schwang latente Kapitalismuskritik mit, weltweite Portabilität des Kapitals und Heuschreckendebatten prophezeiend. Cyberpunker sind durchweg Verlierer dieser Entwicklung. Hasardeure, die ihre Nische im romantisch-rebellischen Leben abseits der Gesellschaft suchen.

Heute fungiert der Cyberspace gleichwohl als Synonym für das World Wide Web als Verschmelzung von Zeitgeist und Medien. Auch dieser hat mit seinen dunklen Ecken, zwielichtigen Gestalten und realen sowie surrealen Gefahren nicht nur positive "Seiten". Ganz wie die Welt, die er umspannt, ist er weder besser noch schlechter und auch keine Bedrohung mehr für einen möglichen Realitätsverlust zwischen den Ebenen von virtueller und realer Welt. Vielmehr stellt er die Vision einer völker- und sogar sprachübergreifenden Kommunikationsplattform dar.

Nutzt der Mensch sie zur Verständigung, kann er damit einen Teil der Zerstreuung und Sprachverwirrung nach dem Turmbau zu Babel aushebeln.


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