© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 04/07 19. Januar 2007

"Schlangenvertilger"
Politische Zeichenlehre XIV: Blauer Hirsch
Karlheinz Weissmann

Das Logo ist eine Schwundstufe des Symbols. Derartige "Warenzeichen" werden nur nach Maßgabe von Originalität und Design geschaffen, selbst die Verbindung der älteren "Marken" zu Heraldik oder Allegorie ist ihnen verlorengegangen. Das Logo entspricht einer Weltauffassung, die ohne Tradition auskommt und den überlieferten Zusammenhängen keine erschließende Kraft mehr zubilligt. Wenn also Luxemburg, die neue Kulturhauptstadt Europas, mit einem hellblauen Hirsch wirbt, kann man auf gar nichts anderes als Willkür in der Deutung oder Event-Charakter hoffen.

Allerdings liegt etwas Symbolisches darin, daß hier ein uraltes Symbol seine Funktion und seinen Sinn ganz und gar verloren hat. Der Hirsch war in der europäischen und außereuropäischen Welt lange Zeit ein wichtiges Lebens-Zeichen. Zu den frühesten Belegen gehört eine Höhlenmalerei, die einen Mann darstellt, der in ein Hirschfell gehüllt war und auf seinem Kopf das Geweih des Tieres trug; die Ähnlichkeit mit späteren Schamanentrachten ist sicher kein Zufall. Pfähle mit Hirschschädeln samt Geweih haben in Westeurasien und in Nordamerika während der Steinzeit kultischen Zwecken gedient. Ein steinernes "Szepter" mit der aufgesetzten Figur eines Hirschs fand man noch im berühmten Schiffsgrab von Sutton Hoo. Der Hirsch war außerdem ein häufiges Motiv der Felsbilder. Sehr wahrscheinlich bestand ein Zusammenhang mit der Sonnenverehrung, wenigstens in der Bronzezeit ist das anzunehmen. Dafür sprechen auch antike Zeugnisse wie der Hinweis, daß der Hirsch dem Apollon heilig war und bei den Hattiern die Sonnengöttin auf einem Hirsch ritt.

Die verbreitete Assoziation von Geweih (französisch le bois du cerf) und Geäst und die Aufmerksamkeit, die die jährliche Erneuerung der "Stangen" wecken mußte, erklären außerdem die Bedeutung als Symbol der Lebenskraft. An der germanischen Weltenesche Yggdrasil frißt ein Hirsch, über dessen Geweih das Lebenswasser herabtropft. Der Aspekt der Regeneration verbindet Hirsch und Schlange, die wegen des Abstreifens der Haut als Sinnbild der Unsterblichkeit galt. Bemerkenswert ist deshalb die häufige Zusammenstellung von Hirsch und Schlange. Ein berühmtes Beispiel findet sich im Bildprogramm des Kessels von Gundestrup, der keltischen Ursprungs war und den Gott Cernunos (das heißt "der Gehörnte") mit einem Hirschgeweih zeigt, rechts flankiert von einem Hirsch, zur linken eine Schlange haltend. Hirsche und Schlangen finden sich auch in der europäischen Volkskunst bis zum Beginn der Neuzeit nebeneinandergestellt.

Das erlaubt allerdings noch keine Klärung der Frage, ob die Tiere ursprünglich als zusammengehörig oder als feindlich betrachtet wurden. Die Vorstellung vom Kampf zwischen den beiden tauchte schon bei antiken Schriftstellern auf, aber erst unter dem Einfluß des Christentums trat der Aspekt stärker hervor: Der Hirsch galt aufgrund der biblischen Überlieferung als Sinnbild des nach Gott "dürstenden" Menschen (Psalm 42), die Schlange als Verkörperung Satans. Der Hirsch wurde außerdem als Christussymbol verstanden. Die - irrtümliche - Behauptung des Physiologus, der Hirsch sei ein "Schlangenvertilger", nahm man als Hinweis auf die symbolische Vorwegnahme vom Sieg Christi über das Böse. Dieser Gedanke kam weiter im Zusammenhang mit dem Artus-Sagenkreis und der Legende des Heiligen Hubertus (Eustachius) zum Tragen. Hier findet sich nicht nur die Vorstellung vom Hirsch als Lebenssymbol wieder (daher die Menge der Hubertus-Apotheken), das zwischen den Geweihstangen erscheinende Lichtkreuz verwies auch auf die ältere Idee vom Sonnenhirsch.

Der Abstand zwischen dem blauen Hirsch und diesem Reichtum der älteren Symbolwelt ist denkbar groß. Aber die Gegenwart bietet durchaus Zugangsmöglichkeiten zu dem, was untergegangen ist. Im Sommer wird in Berlin eine große Ausstellung zur Geschichte der Skythen zu sehen sein, über deren faszinierende - einerseits archaische, andererseits raffinierte - Kultur uns gerade die Ausgrabungen deutscher Archäologen neue Aufschlüsse vermitteln. Unter den Exponaten werden sich auch kostbare goldene Geweihe finden, mit denen die Pferde geschmückt waren, die den begrabenen Kriegern und Fürsten beigegeben wurden, um sie in mythische Hirsche zu verwandeln - vielleicht waren sie Seelenbegleiter, die den Toten ins Jenseits führten.

Foto: Luxemburg wirbt als Europäische Kulturhauptstadt 2007 mit dem blauen Hirsch

Die JF-Reihe "Politische Zeichenlehre" des Göttinger Historikers Karlheinz Weißmann wird in zwei Wochen fortgesetzt


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