© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 04/07 19. Januar 2007

Das falsche Leben im richtigen
Mein Avatar ist reicher als deiner: Auch in virtuellen Welten kreist alles um Geld und Sex
Ellen Kositza

Daß eine demographische Steilkurve ohne Elterngeld oder religiöse Fundamentierung - allerdings auch ohne Kinder - möglich ist, beweist die Internetplattform Second Life (SL) mit ihrer Bevölkerungsexplosion: An die 100.000 Neumitglieder treten Woche für Woche dem virtuellen Land bei. Bald drei Millionen Einwohner zählt die multinationale Gesellschaft, ein Ende des Wachstums ist keinesfalls in Sicht.

Wer eintritt ins zweite Leben, formt seine Identität (den Avatar) nach eigenen Wünschen - soweit bereits aus diversen Foren und Chatrooms bekannt. SL verführt durch die Dreidimensionalität seiner schier unbegrenzten Räume und durch die Vielfalt der Interaktionsmöglichkeiten, die es bietet; eigenes Wirtschaftssystem inklusive. Linden Dollar können in echtes Geld getauscht werden, geplant ist ferner eine Erweiterung um die Faktoren Kredit, Zins und Zinseszins. Realer Konsum ist gängig, längst füllen neben virtuellen Hochschulen - selbst Harvard ist präsent - und Spielhöllen Ladengeschäfte die Straßenzüge: Rund 14.000 Unternehmer (darunter Riesen wie Amazon und Adidas) sollen ein profitables Geschäft im SL betreiben, der Springer-Verlag bietet ein virtuelles Klatschblatt feil.

Ungezählt sind die Episoden, die um Begebenheiten aus dieser virtuellen Gesellschaft kursieren. Es geht die Rede von ehemüden Pärchen, die - vor den je eigenen Bildschirm gebannt - eine neue, aufregende Nähe bar von Alltagssorgen erleben, und von heißen Cyberparties, bestückt mit großbrüstigen Mädels und imposanten Mannsbildern. Die passende Kleidung gibt's auch hier nicht umsonst, billiger als im wahren Leben ist das Aufrechterhalten des schönen Scheins allemal.

Mag einer im wahren Leben kontaktarmes Mobbingopfer sein, unansehnlich und siech, kann er hier mit vernachlässigenswertem Aufwand als potenter Muskelmann reüssieren, mit Grundbesitz, Waffenarsenal und vielfältigen Sexualpartnern. Gender switching ist freilich kein Problem; es heißt, daß ein Viertel der weiblichen Avatars im wirklichen Leben Männer sind.

Der Spielcharakter und damit die Entfremdung des Subjekts von den Realien der wirklichen Welt kennzeichnen dabei nur die Oberfläche des Phänomens, das Systemtheoretiker schon lange vorwegnahmen. Es fehlen zuverlässige Einschätzungen zur vielbeschworenen "Internetsucht". Ab welchem Maß online verbrachter Zeit von einer Gefährdung auszugehen ist und wieviel Betroffene es gibt, ist unklar und Definitionssache. Während Psychiatrieprofessor Volker Faust von einer wöchentlich 35minütigen Internetnutzungsdauer des Durchschnittsverbrauchers ausgeht, nennt eine Studie der Humboldt-Universität die beträchtlich davon abweichende Zahl von 17,5 Stunden.

Ohnehin ist nicht erst die Pathologie bedenkenswert. Die Warnung vor Realitätsverlust durch Versenkung in phantastische Sphären ist ja so alt wie die Kulturkritik an sich. Erinnert sei an Zeiten, in denen Romanlektüre als bedrohlicher Schritt in die Weltfremdheit galt. Rückzug aus dem öffentlichen Leben, Vernachlässigung sozialer Kontakte: im Grunde alte Hüte. Solche Gefährdung gilt dem anfälligen Einzelnen; das große Ganze der "richtigen" Welt dreht sich ja unbenommen der virtuellen Konkurrenz weiter. Wer sich alternativlos der konsequenzarmen Welt aus Diskussionsforen und sonstigen virtuellen Begegnungsstätten hingibt, hat vermutlich im wahren Leben wenig Gestaltungsspielraum oder kreatives Vermögen.

Man kennt ähnliches bereits von der Breitenwirkung gängiger TV-Serien, deren Schauspieler manchem Zuschauer den Freundeskreis ersetzen und deren dramatisch übersteigerte Affekte Einzug ins Alltagsleben hielten. Mancher Ehekrach, mancher Rechtsstreit fußt in seiner Inszenierung auf televisionärer Folie.

Relativ neu ist die Verschränkung der realen mit der Cyberwelt, wie sie - qua Wirtschaftskraft - durch SL-Formate und Weblogs als Meinungsmacht zutage tritt. Mittlerweile haben die SL-Erfinder Teile des Quellcodes als open source freigegeben: Demokratisierung per Kybernetik steht einmal mehr als emanzipatorische Zauberformel hinter virtueller Aktivität. Der Boom der Informationstechnologie und insbesondere der Cyberwelt stellt insofern eine Kulturschwelle dar, die mit der Bedeutung und Folgenschwere der Industriellen Revolution mindestens vergleichbar ist und diese in punkto Systemtheorie um eine schwer überschaubare Dimension ergänzt: Netzwerke und Strukturen treten anstelle organisch gewachsener, hierarchisch untergliederter Ordnung.

Lutz Dammbeck hat in seinem atemberaubenden Film "Das Netz" (2003) Kybernetik und Systemtheorie mit den Studien Horkheimers und Adornos zusammengeführt. Mit ihrer Studie zum "autoritären Charakter" (als Wesensmerkmal vor allem der Deutschen begriffen) gaben jene Protagonisten der 68er-Wissenschaftszunft Impulse für einen informationstechnologischen Eingriff in die menschliche Psyche mit dem Ziel, tradierte Werte und Bindungen - die für totalitäres Verhalten verantwortlich gemacht wurden - zugunsten einer selbstregulierenden Umerziehung im Sinne eines emanzipierten Individuums zu ersetzen.

Open society oder, ex negativo, organisierte Unverantwortlichkeit sind die Überschriften der entgrenzten Globalwelt, die das Internet bereitstellt. Dessen Annehmlichkeiten erweisen sich gleichzeitig als Risiko: Wer erstellt gültige Konzepte in einem Raum, wo konzeptfreies Dahindenken im Patchwork-Stil möglich ist? Wer filtert Informationen, wo Informationsfreiheit und -vielfalt als Nonplusultra und eigentlich demokratischer Kern gelten? Und wer denkt noch selber (gegoogelte Seminararbeiten sind Legion), wo alles Erdenkliche bereits barrierenfrei gebahnt ist?

Die Mythen einer hierarchiefreien Dezentralisierung durch Meinungsvielfalt stehen einem Prozeß der Konzentration in politischer wie wirtschaftlicher Hinsicht gegenüber. Es sind Parallelwelten, die - dem Wesen von Parallelen gemäß - zusammentreffen müssen. Längst hat sich eine Cyber-Elite herausgebildet - die jungen Autoren Holm Friebe und Sascha Lobo des Bestsellers "Wir nennen es Arbeit" sprechen von einer "digitalen Bohéme" -, für die das Internet mehr als eine ersprießliche Einkunftsquelle darstellt.

Hier, in Softwareschmieden, Suchmaschinen und "Blogwarten", wird das Anti-Ideologische selbst zur Ideologie. Der mündige Bürger wird sich solcher Gefahr zu entziehen wissen. Daß das Internet dem großen Rest aber zur Mündigkeit verhelfe, ist ein Trugschluß.

Foto: Virtuelle Welten im Internet bei "Second Life": Netzwerke treten an die Stelle organisch gewachsener, hierarchisch untergliederter Ordnung


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