© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 04/07 19. Januar 2007

Kolumne
Es brennt! Es brennt!
Klaus Motschmann

Der dänische Religionsphilosoph Sören Kierkegaard (1813–1853) hat zur Veranschaulichung elementarer Grundsätze verantwortlicher Kommunikation folgende Geschichte erzählt: In einem Dorf lief von Zeit zu Zeit nachts ein Bauernjunge durch die Straßen und rief mit panikartiger Stimme: „Es brennt! Es brennt!“ Beim ersten Mal schreckten die Leute noch auf und verließen ihre Häuser; allmählich aber hörte niemand mehr auf diese Hilferufe – auch nicht, als es eines Nachts wirklich brannte und das Dorf einäscherte. 

Diese kleine Geschichte sollte eigentlich in allen verantwortlichen Redaktionen unserer Medien hängen und daran erinnern, daß es nicht nur die vielzitierte „Sozialverpflichtung des Eigentums“ gibt, sondern auch eine Sozialverpflichtung des Umgangs mit Nachrichten und Meinungen. Dazu gehört an hervorragender Stelle das Problem der täglichen Nachrichten zum „Anwachsen des Rechtsradikalismus“ in Deutschland. In den Rückblicken auf das vergangene Jahr sind die Bilanzen verantwortlicher Politiker und Meinungsmacher wieder einmal von diesem seit Jahren vorherrschenden Trend ausgegangen. Inzwischen sollen rund 25 Prozent der Deutschen über ein „geschlossenes rechtes Weltbild“ verfügen. 

Akzeptieren wir diese Feststellung einmal für den Augenblick. Dann sollte sich doch eigentlich die naheliegende Frage nach den Gründen für diese Entwicklung stellen. Was würde man von einem Arzt halten, der einem Patienten bei jeder Visite eine Verschlimmerung seiner Beschwerden attestiert, aber nicht nach den Gründen für den Krankheitsverlauf fragt, sondern statt dessen eine immer stärkere Dosierung der Medikamente anordnet, die bisher nicht geholfen haben? Eine gründliche Diagnose ist nun einmal die notwendige Voraussetzung für die verantwortungsvolle Behandlung einer Krankheit. 

Wie also ist es möglich, daß gerade in den neuen Bundesländern nach einer konsequent antifaschistischen Bildungs- und Kulturpolitik in der DDR ein so bedrohliches Anwachsen des Rechtsradikalismus zu beobachten ist – aber auch in den alten Bundesländern, in denen das „kulturelle Milieu mit einer gewissen Selbstverständlichkeit von der intellektuellen Linken“ geprägt werden konnte (so Jürgen Habermas bereits 1979)? Warum werden diese naheliegenden Fragen heute nicht mehr gestellt? Die Antwort ist sehr einfach: weil die Diagnose einen erschreckenden Befund über das Wahrnehmungsvermögen der intellektuellen Linken ergeben würde.

 

Prof. Dr. Klaus Motschmann lehrte Politikwissenschaften an der Hochschule der Künste Berlin.


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