© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 02/07 5. Januar 2007

Themengeber der Republik: Vor sechzig Jahren erschien der erste "Spiegel"
Auf allen Kanälen präsent
Paul Rosen

Spiegel-Leser wissen mehr, heißt es seit Jahr und Tag in der Eigenwerbung des Hamburger Nachrichtenmagazins. Sechzig Jahre wird das seit der Gründung im handlichen Format erscheinende Blatt alt. Am 4. Januar 1947 erschien, damals noch in Hannover, die erste Ausgabe, 1952 folgte der Umzug nach Hamburg in die Brandstwiete. Bald schon entwickelte sich das Blatt unter der Leitung Rudolf Augsteins zum unbestrittenen Nachrichtenführer in Deutschland.

"Wo ist der Spiegel?" schallt es regelmäßig jeden Montag morgen durch die Redaktionen von Zeitungen, Radiostationen und TV-Sendern. Trotz aller Agenturmeldungen und eigener Recherchen fühlt sich der gemeine deutsche Journalist schlecht informiert, wenn er nicht an jedem Montag die neueste Ausgabe des Hamburger Magazins in Händen halten kann.

Was hat das Blatt, was andere nicht haben?

Heute ist der Spiegel an Tankstellen und ausgewählten Kiosken sogar schon sonntags zu haben. Moderne Techniken und bessere Logistik machen es möglich. Davor wurden in Bonn und auch jahrelang noch in der Berlin in den Redaktionsstuben Sendboten aus Hamburg am Sonntag dringend erwartet: Für Chefredakteure und Korrespondenten gab es einen sündhaften teuren Sonder-Service: Kuriere lieferten den Spiegel bereits am Sonntag aus.

Was hat das Blatt, was andere nicht haben? Die Antwort ist relativ einfach. Schon Rudolf Augstein sammelte hervorragende Rechercheure um sich, Nachfolger Stefan Aust (60) tut das auch. Der Spiegel ist im Gegensatz zu anderen Medien personell gut ausgestattet; derzeit arbeiten über 340 Journalisten für die Redaktion. Das schafft Kapazitäten für die Recherche. Außerdem wird das Personal nicht - wie heute im Medienbereich üblich - permanent ausgewechselt, sondern die Korrespondenten bauen sich in jahrelanger Kleinarbeit ein persönliches Netzwerk auf, das funktioniert. Politiker und Wirtschaftskapitäne stehen im Gegenzug beim Spiegel Schlange, um Informationen loszuwerden. Ein Ergebnis sind zahlreiche Exklusivgeschichten.

Ein anderes Ergebnis ist für den deutschen Journalismus weniger schön: Es wird regelmäßig aus dem Spiegel abgeschrieben. Die Themen der Woche des Blattes werden in zahlreichen Tageszeitungen, selbst in überregionalen, nach und nach abgearbeitet und leicht durch eigene Recherche (im Regelfall Erklärungen von Politikern) ergänzt. Die Kommentierung deutscher Journalisten richtet sich mehrheitlich nach der vom Leitmedium Spiegel vorgegebenen Tendenz. So ist man immer auf der sicheren Seite - und falls mal nicht, kann man sich rausreden: "Aber im Spiegel stand doch ..." Spätestens am Freitag, wenn alle Inlandsthemen aus dem Magazin nachgearbeitet und nachgedruckt waren, brach in Bonn die große Langeweile aus. Warten auf den Montag, hieß die Devise.

In sechzig Jahren änderte sich auch der Spiegel. Unvergessen ist, daß Augstein - sehr zum Ärger der Machthaber in Ost-Berlin - die DDR bis zu ihrem Untergang unter der Rubrik "Inland" führte. Das war sicher eine nationale Geste. Galt das Blatt in den sechziger Jahren als "im Zweifel links" (Augstein) und in den Siebzigern als tendenziell sozialliberal, so hat es spätestens seit Rot-Grün eine eher neutrale Rolle eingenommen. Es ist regierungskritisch, mehr nicht, aber auch nicht weniger. Spiegel-Geschichten von heute beschreiben in lockerem Stil die Dekadenz der Berliner Republik - politisch, gesellschaftlich und wirtschaftlich.

Den Veränderungen in der Medienwelt hielt der Spiegel stand. Seit 1988 steht Spiegel TV für spannende Reportagen und Hintergründe. Und Spiegel online, gegründet 1994, gilt heute im Tagesgeschäft als die führende Internet-seite für deutsche Politik. In den Redaktionen der Tageszeitungen und Sender ist der Internet-Explorer mit Spiegel online stets geöffnet; bei vielen ist es die Startseite. Wer bei der Blattplanung alle Themen dieses Internetdienstes berücksichtigt hat, weiß sich als Chefredakteur oder Politikchef einer deutschen Zeitung auf der sicheren Seite. Wieder hat es der Spiegel durch Investitionen in gutes Personal geschafft, auch im Online-Geschäft führend zu bleiben und die Wettbewerber abzuhängen. Selbst der mächtige Springer-Verlag dürfte es nicht schaffen, mit Welt online den Spiegel im Internet zu überholen.

Es gab Versuche, den Spiegel in Bedrängnis zu bringen. Focus (seit 1993) war so ein Projekt. Chef Helmut Markwort warb mit "Fakten, Fakten, Fakten" gegen das Tendenzblatt aus Hamburg. In den letzten Jahren jedoch mutierte Focus immer mehr zu einem Lifestyle-Blatt ohne großen nachrichtlichen Anspruch. Heute haben beide Magazine eine grundverschiedene Leserschaft.

Auch die nachrichtliche Stärke der Sonntagszeitungen, besonders von Springers Welt am Sonntag, ist in den letzten Jahren stark zurückgegangen. Verzweifelt versucht Springer, durch Redaktionsfusionen und Schaffung neuer Strukturen ("Newsroom"), verlorenes Terrain zurückzugewinnen. Es dürfte vergeblich sein. So bleibt der Spiegel hierzulande wohl bis auf weiteres das Blatt, von dem der deutsche Durchschnittsjournalist mit Vorliebe abschreibt.


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