© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 02/07 5. Januar 2007

Den Horizont aufsprengen
Vor dreißig Jahren konstituierte sich die Bürgerrechtsbewegung "Charta 77" / Symbol für eine Opposition jenseits des Eisernen Vorhangs
Thorsten Hinz

Die tschechoslowakische Bürgerrechtsbewegung "Charta 77" hat sich 1992 aufgelöst. Muß man daraus folgern, daß sich das Anliegen der Dissidenten im Ostblock erfüllt habe und man sich allenfalls am Mut der Beteiligten noch ein Beispiel nehmen könne? Das wäre eine verengte Interpretation, denn der kommunistische Staat war nur vordergründig der Feind. Er war nur der Funktionär des Kitsches: des "totalitären Kitsches", wie Milan Kundera in seinem Meisterwerk "Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins" formulierte. "Im Reich des totalitären Kitsches sind die Antworten von vornherein gegeben und schließen jede Frage aus. Daraus geht hervor, daß der eigentliche Gegner des totalitären Kitsches ein Mensch ist, der Fragen stellt."

In der Tschechoslowakei waren die politischen Verhältnisse in der Phase der "Normalisierung", die dem "Prager Frühling" von 1968 folgte, besonders rigide. Erst die Schlußakte von Helsinki 1975 weckte neue Hoffnungen. Die Sowjetunion hatte dort die Anerkennung der Nachkriegsgrenzen erreicht, dafür aber den sogenannten "Korb 3" akzeptieren müssen, der von humanitären Standards handelte. Unter Berufung auf die Schlußakte konstituierten sich im Ostblock "Helsinki-Gruppen", was zu wütenden staatlichen Reaktionen führte. In Prag gingen die Behörden 1976 stellvertretend gegen Untergrundmusiker vor, die von keiner Prominenz geschützt waren, um regimekritische Intellektuelle und Künstler flächendeckend einzuschüchtern. Vaclav Havel drang auf die Solidarisierung mit den Musikern. Am 11. Dezember trafen sich neun Dissidenten, die "fast das gesamte Spektrum des nicht regimetreuen Bürgertums" darstellten (Pavel Kohout), in einer Wohnung in der Prager Neustadt, um über Aktionen zu beraten. Ähnelte das Szenario bis hierher noch dem Protest der DDR-Schriftsteller gegen die Biermann-Ausbürgerung vom 16. November 1976, wurden nun wesentliche Unterschiede deutlich. Die Biermann-Petition beschränkte sich auf den konkreten Fall und war von Loyalitätsversprechen umrahmt.

Den Prager Bürgerrechtlern ging es um Grundsätzliches

Die Prager Bürgerrechtler signalisierten mit dem Begriff "Charta 77", daß es ihnen um Grundsätzliches ging. Sie bezogen sich in ihrer Erklärung auf die Uno-Charta der Menschen- und Bürgerrechte und stellten damit das Definitionsmonopol der Partei in Frage. Drei "Charta"-Sprecher wurden bestimmt: der Philosoph Jan Patocka, der ehemalige Außenminister Jiri Hajek und der Schriftsteller Vaclav Havel. Es gab 242 Erstunterzeichner, Hunderte weitere folgten. Die Charta wurde an die Prager Führung und an große westeuropäische Zeitungen weitergeleitet. Am 6. Januar 1977 zündete die Bombe.

Die "Charta 77" erschütterte das Regime, dem die oppositionelle Aktion bis dahin völlig entgangen war. Es schlug brutal zurück. Den Chartisten wurden Führerscheine, Autozulassungen, Personalausweise, die Kranken- und Rentenversicherung entzogen, Privattelefone wurden "aus Gründen öffentlichen Interesses" abgeschaltet. Der Schriftsteller Pavel Kohout wurde aus seiner Wohnung am Hradschin zwangsexmittiert, Havel wurde verhaftet. Der 70jährige herzkranke "Charta"-Sprecher Patocka wurde nach einem Treffen mit dem holländischen Außenminister zehn Stunden lang verhört, brach zusammen und starb schwerbewacht im Krankenhaus. Doch die "Charta 77" war fortan ein Symbol und Nukleus der politischen Opposition. Beachtlich war auch ihr geistiger Ertrag. Vaclav Havel veröffentlichte den Essay "In der Wahrheit leben", Vaclav Benda "Die parallele Polis". Es ging ihnen darum, die lähmende Fixierung auf den Staat durch gesellschaftliche Selbstorganisation zu überwinden, ihn mittels Parallelstrukturen zu unterlaufen und so den "totalitären Kitsch" außer Kraft zu setzen.

Diese Aufgabe hat sich mit dem Jahr 1989 keineswegs erledigt, sie stellt sich nur in anderer Form, auch in Deutschland. Die Konsumindustrie maßt sich an, das Leben der Bürger zu erfinden, während das kulturelle und geistige Leben vom Gesinnungskitsch der Bewältigungsindustrie erstickt wird. Die Geschichte der "Charta 77" und der anderen Bürgerrechtsbewegungen verdient es, neu entdeckt zu werden. Sie führt auf Fragen zurück, die Systemhorizonte aufsprengen.


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