© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 02/07 5. Januar 2007

Der Gesang des Arion
Hilfe für den Hund des Meeres: Die Uno hat 2007 zum "Jahr des Delphins" ausgerufen
Günter Zehm

Flipper sei Dank. Keine andere UN-Resolution ist je auf soviel allgemeine, ungeteilte Zustimmung gestoßen wie der Beschluß, 2007 zum "Jahr des Delphins" zu ernennen. West und Ost, Nord und Süd, Arm und Reich waren sich ausnahmsweise einmal völlig einig: Ein "Jahr des Delphins" sei fällig, überfällig. Und nun will man alles tun, um ihm zum Erfolg zu verhelfen. Es ist ja das erste Mal in der Geschichte der Vereinten Nationen, daß einem einzelnen Tier die Ehre eines ganzen UN-Jahres zuteil wird.

Flipper sei Dank? Sicher, die legendäre TV-Serie hat kräftig dazu beigetragen, die Popularität des Delphins zu steigern und weltweit Interesse für ihn zu wecken. Aber populär war der Delphin schon immer, natürlich vor allem bei den seefahrenden und inselbewohnenden Völkern. Er galt von Anfang an als Freund der Menschen, wurde - im Gegensatz zu seinen großen Verwandten, den Walen - nie systematisch und industriell gejagt; seit Urzeiten hat man statt dessen versucht, geistigen Kontakt mit ihm herzustellen, sich mit ihm zu verbünden, von seinen Talenten zu profitieren.

"Der Delphin ist der Hund des Meeres", verkündete schon Plinius der Ältere, und er meinte es durch und durch positiv, nicht die Spur verächtlich. Wie denn auch anders? Am Delphin ist nichts "typisch Hündisches", nichts Beflissenes oder hemmungslos Dienstbereites. In den Delphinarien der Zoos und Meeresstationen kann man es gut beobachten: Delphine spielen Ball, schieben kleine Jungen in Rettungsringen vor sich her, lassen sich ausführlich betatschen und springen durch Reifen, doch alles geschieht aus schierem Amüsement beim Mitmachen, ist ganz und gar freiwillig. Delphine bleiben in allen Lebenslagen sie selbst.

Die meisten Zoologen hegen ungeteilten Respekt vor ihnen und zählen sie, neben Schimpansen und noch vor Hunden und Papageien, zu den klügsten Tieren überhaupt. Selbst die Skeptiker in der Delphinforschung formulieren ihre Einwände vorsichtig und tastend. "Ja", räumen sie ein, "das Gehirn der Delphine ist sehr groß und besitzt eine komplexe, hochdifferenzierte Hirnrinde, aber es besteht zum guten Teil nicht aus Nervenzellen, sondern aus Gliazellen, die vor allem zur Wärmedämmung und zur Aufrechterhaltung des Gleichgewichts dienen. Genaueres weiß man freilich noch nicht."

Geklärt ist, daß Delphine, pfeilschnelle Schwimmkünstler und ingeniöse Echo-Deuter, fließend und dynamisch denken und deshalb im Nu Bewegungsfolgen und Reaktionen speziell auf akustische Signale erlernen. Ihre drollige "Denkerstirn" beherbergt ein eigenes, für sie typisches Organ, die sogenannte Melone, mit deren Hilfe sie wahre Meisterleistungen in Sachen Laut-Kommunikation und Echo-Lokation vollbringen. Mit dem optischen Auseinanderhalten fest umrissener Kanten und Winkel haben sie dagegen ihre Schwierigkeiten, verwechseln gerne mal Dreiecke mit Vierecken und sind unterm Strich ziemlich schlechte Geometer. Doch das tut ihrer Intelligenz nur geringen Abruch.

Die "Schulen", zu denen sie sich zusammenfinden, sind lose Zweckgemeinschaften für Nahrungserwerb, Baby- und Krankenpflege oder gemeinsames Spiel; Delphine spielen nicht nur im Kindesalter, sondern ihr ganzes erwachsenes Leben lang, und zwar nicht nur miteinander, sondern auch mit allem Übrigen, was ihnen begegnet und was sich bewegt, nicht eßbar ist und keine Gefahren birgt. Zum Beispiel also mit menschlichen Schiffen, die sie oft stundenlang begleiten, dabei immer wieder aus dem Wasser springend und allerlei akrobatische Figuren zeigend. Nicht zuletzt dies war es, was die Menschen von früh an für sie einnahm, zu intensivem Nachdenken über sie und zu Kontaktversuchen einlud.

Schier unübersehbar ist die Fülle der Mythen und der lange zurückliegenden "wahren Begebenheiten", die vom innigen Kontakt zwischen Mensch und Delphin Kunde geben. An faktisch sämtlichen Küsten wird von Schiffbrüchigen oder von in Untiefen geratenen badenden Kindern erzählt, die von Delphinen angeblich rekognostiziert und ans rettende Ufer gebracht wurden. Den Sonnengott Apollo sollen sie einst, ganz aus eigenem Antrieb, von einer winzigen Insel herab, auf der er ausgesetzt war, über Tausende von Seemeilen zum Festland transportiert haben, wie auch einen französischen Königssohn, weshalb dann alle französischen Thronfolger über viele Jahrhunderte hinweg Delphin (dauphin) hießen.

Am berühmtesten ist wohl die Sage von den Delphinen und dem Sänger Arion von Lesbos, der als Begründer der griechischen Musik, speziell der Tragödienmusik gilt. Arion soll auf einer Seereise von der Besatzung des von ihm gemieteten Schiffes, die gierig auf seine mitgeführten Reichtümer war, gezwungen worden sein, über Bord zu springen; er durfte aber vorher noch ein Lied singen. Arion sang - und sogleich sammelten sich unzählige Delphine um das Schiff, die ihm mit begeistertem Gezwitscher und liebevollen Pfeiftönen antworteten und ihn, nachdem er gesprungen war, sicher und triumphierend in die Heimat forttrugen. Dem Kapitän und seiner Besatzung aber soll es später übel ergangen sein.

Wir sehen, der Delphin ist wirklich ein erstaunliches und eng verbündetes Lebewesen, ein unvergleichlicher Liebhaber der Künste, der es wahrlich verdient, daß ihm die Uno das neue Jahr 2007 gewidmet hat. Als Anlaß für die spektakuläre Widmung werden in New York allerdings keine sentimentalen, sondern höchst praktische Gründe genannt. Der Delphin, heißt es, sei in seinem Bestand vielfach gefährdet, sogar vom Aussterben bedroht, und alle Mitgliedsländer seien dringend aufgerufen, sich das klarzumachen und darauf zu reagieren. Man müsse Hilfsprogramme auflegen, "Maßnahmen" treffen.

Der Delphin auf der Roten Liste? Man mag es kaum glauben. Und für den Großen Tümmler, jene Art, mit dem wir gewohnheitsmäßig unser Bild vom Delphin verbinden, gilt das glücklicherweise auch nicht. Aber es gibt andere Arten bzw. Gattungen, die leider sehr viel schlechter dran sind, auch in der Unterfamilie der sogenannten "echten Delphine", zu denen die ebenfalls gefährdeten Grindwale und die gefräßigen Schwertwale oder Orcas nicht gehören.

Besonders die Gattung der originellen Süßwasser- und Flußdelphine hat es in den letzten Jahren gewissermaßen frontal erwischt. Die Überfischung, Verschmutzung und rücksichtslose Regulierung etwa des Amazonas in Südamerika oder des Jangtse in China hat einigen Arten derart zugesetzt, daß selbst intensivste Beobachtungen keine Vorkommen mehr feststellen können. Für den Jangtse-Delphin ist das abgelaufene Jahr 2006 in den Annalen soeben "unwiderruflich" als Aussterbejahr eingetragen worden. Und die Forscher befürchten bereits für 2007 weitere Verlustanzeigen.

Gegen Schmutz und blinde Verwertungswut helfen eben auch die allerfeinsten Echolote und Schwimmkünste nicht mehr, von musikalischem Sinn und Spielverliebtheit zu schweigen. Notwendig ist jetzt tatsächlich, daß die Menschen den Delphinen zu Hilfe kommen, so wie diese äonenlang den Menschen zu Hilfe gekommen sind. Jeder "Dauphin", der auf sich hält, muß das an sich einsehen.

Foto: Delphine bei Sonnenuntergang: Die Meeressäuger spielen ihr ganzes erwachsenes Leben lang miteinander und mit allem, was ihnen begegnet


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