© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 02/07 5. Januar 2007

Pankraz,
der Schauspieler und die Fernseh-Gala

Ein Datum aus der Frühzeit europäischer Kulturentwicklung ist zuverlässig und genau überliefert: 493 v. Chr., genau vor 2.500 Jahren, trat im (noch aus Holz gezimmerten) Dionysostheater von Athen, am Südhang der Akropolis, zum ersten Mal ein einzelner Mime vor das Publikum, um im dithyrambischen Sprechgesang mit dem Chor auf großer Bühne individuelles Fühlen und Wollen eindringlich zu artikulieren und zu behaupten. Es war die Geburtsstunde der Tragödie wie des abendländischen Individualismus, jener Mime war der erste wirkliche und professionelle Schauspieler, der je agierte.

Sein Name ist nicht bezeugt, er sang und gestikulierte nicht als Individuum, sondern als "persona", also als Maske, sein Gesicht war verdeckt, er schritt auf hohen Kothurn wie ein Stelzenläufer. Es war eben eine absolute Neuheit, der man noch nicht recht über den Weg traute. Aber aus ihr entstand der ungeheure Diskussions- und Unterhaltungsbetrieb, der später das öffentliche Leben im alten Rom so tief prägen sollte und der aus unserer medialen Gegenwart gar nicht mehr wegzudenken ist.

Was wurde dabei aus dem einsamen Stelzenläufer des Anfangs selbst? Konnte er aus der rasanten quantitativen Ausweitung und qualitativen Ausfaltung seines Berufs Nutzen ziehen? Wuchsen sein Ansehen und sein Einfluß auf die Gesellschaft? In der Antike scheint er - trotz des spontanen Mißtrauens - in hohen Ehren gestanden zu haben. Die Tragödiendichter, Sophokles, Euripdes, waren ja alle in der Polis hochgeachtete Persönlichkeiten, und sie waren üblicherweise identisch mit den Schauspielern ihrer Stücke.

Die Mitglieder des respondierenden Chores hingegen waren schlichte Bürger, die Musiker und die Zappelfritzen im abschließenden Satyrspiel rekrutierten sich aus Sklaven und Freigelassenen. Und als nach dem Verfall der Tragödie in der Spätantike nur noch das Satyrspiel, die "Komödie", auf den Theatern übrigblieb, galten die dort beschäftigten Akteure automatisch als Unterklasse, als "fahrendes Volk" ohne Gerechtsame und Privilegien.

Im ganzen Mittelalter blieb das so, was sogar einige an sich hochbegabte und berühmte, aber freischaffende Minnesänger zu spüren bekamen. Erst mit der Wiedergeburt der Tragödie im Barock stellte sich die klassische Konstellation halbwegs wieder her: teils höchstes Ansehen, höchster sozialer Rang (der König selbst übernahm ja bei gewissen Spielen oft eine Rolle), teils Verächtlichmachung als fahrendes Volk, "loses Völkchen", und Diskriminierung.

Noch in Goethes Wilhelm-Meister-Roman kann man dieses Verhältnis studieren. Die dort üppig vorkommenden Schauspieler haben an sich keinen sozialen Rang, ihre Existenz ist ständig bedroht von regelrechter Deklassierung. Andererseits stehen sie beträchtlich im Glanz der größeren oder kleineren Höfe, vor denen sie auftreten, und profitieren davon, werden bei hinreichender Exzellenz, Bildung und Schönheit zum Gespräch an die Tafel der Mächtigen gezogen, mit Orden behängt und mit Ehrensolden ausgestattet.

Ziemlich viele schöne und energische Schauspielerinnen wurden zu Mätressen der Fürsten, was ja weiß Gott nicht Diskriminierung, sondern eminenten sozialen und politischen Aufstieg bedeutete. Ansatzweise entwickelte sich schon damals eine Art Starkult, besonders um die großen Begabungen des singenden Personals, um Opernsängerinnen und Kastraten, die bereits phantastische Gagen kassierten und denen das Publikum regelrecht zu Füßen lag. Doch der Beruf des Mimen, Sänger und Musiksolisten eingeschlossen, blieb interessanterweise immer riskant, er verweigert sich nun einmal der Einordnung in "normale", bürgerliche Berufsrollen.

Selbst als die ersten staatlich finanzierten Schauspielschulen und Singakademien aufmachten, konnten deren Absolventen der Kalamität nicht entgehen. Äußerster Ruhm auf der einen Seite, fatales Scheitern und Herausfallen aus der bürgerlichen Gesellschaft auf der anderen - das lag weiterhin eng beieinander, und auch das realistische bürgerliche neunzehnte Jahrhundert hielt den Mimen gegenüber stets ein ausgesprochen ambivalentes Verhältnis aufrecht: Geniekult nach außen, dagegen innerhalb der Familie permanente Warnungen, bloß keine Schauspielerkarriere anzustreben, sondern etwas "Ordentliches" und "Sicheres" zu lernen.

Heute, im Zeitalter der neuen Medien (Film, Radio, Fernsehen) ist die Konstellation fast unverändert: Starruhm hier, mausgraue Statisten- und Nebenrollen-Existenz da. Und gerade die (ernsthafteren) Stars leiden unter zusätzlichen Frustrationen. Denn das moderne, technikbedingte Auseinanderfallen der Rollen in "Takes", in mimetische Augenblicksphasen und bloße "Einstellungen", die zudem noch unzählige Male wiederholt werden, bringt gerade die besten um ein ganz wichtiges, zentrales Element ihres Mime-Seins.

Der kostbare Augenblick des emphatischen Zusammenseins mit "ihrem" Publikum, der jauchzende Beifall im Moment des gloriosen Gelingens, der Aufstieg der ganz eigenen Individualität zum Inbegriff einverständigster, edelster Gemeinschaft, wie ihn jener Stelzenläufer vor 2.500 Jahren zum ersten Mal verspürte - er ist verloren. Darin besteht, kann man sagen, die Tragödie unserer Tage.

Nicht zuletzt deshalb ja die Sehnsucht an sich hochberühmter Fernsehkommissare nach dem guten alten Stadttheater, wo sie wenigstens einmal den Hamlet oder den Lear geben könnten. Und da auch das Stadttheater längst nicht mehr das alte ist, alle Darsteller zu bloßen Satyrspielern mit erigiertem Geschlechtsteil und obszönen Gesten werden, die Sehnsucht faktisch aller Mimen nach dem medialen "Massen-Event", nach der "Gala", wo man, wenn man vom Moderator aufgerufen wird, kein Kommissar und kein Satyr mehr zu sein braucht, sondern ganz man selbst sein kann. Bitte, liebes Publikum, schalte die Events und die Galas nicht ab! Die Schauspieler danken es dir.


Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen