© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 52/06 01/07 22./29. Dezember 2006

Das göttliche Kind
von Thomas Bargatzky

Seit der Wende vom ersten zum zweiten Jahrtausend unserer Zeitrechnung versteht man den Ersten Adventssonntag als Beginn des Kirchenjahres. Die Adventszeit, als Zeit der Vorbereitung auf die Hochfeste Weihnachten und Epiphanie, sei "von freudiger und vertrauensvoller Erwartung" auf das Kommen Christi geprägt, heißt es in einem liturgischen Lexikon. Wie sieht es aber in der Wirklichkeit aus? Was sagt uns heute die Botschaft von der Menschwerdung Gottes in einem Kind? Ist Weihnachten nicht im Grunde nur noch eine von Konsumzwang und der Jagd auf Weihnachtsgeschenke bestimmte Zeit sentimentaler Erinnerung an die eigene Kindheit, so daß immer mehr Zeitgenossen vor der "stillen Zeit" lieber an die Gestade eines südlichen Ferienstrandes entfliehen? Und überhaupt - sind wir den christlichen Bildern und Metaphern nicht längst entwachsen, und bieten uns nicht orientalische Religionen und Weisheitslehren eher den Zugang zu jener Spiritualität, die wir im Christentum mit seinen unverständlichen und nicht mehr zeitgemäßen Bildern und Metaphern nicht mehr finden können?

Wenn man vor ein paar Jahren durch eine unserer größeren Städte schlenderte, dann fiel der Blick auf ein Plakat mit dem ansehnlichen Konterfei einer jungen Asiatin und folgender Ankündigung: "Die Höchste Meisterin vom Himalaya spricht über: 'Die sofortige Erleuchtung - Es ist einfach, Wahrheit, Schönheit und Güte zu erreichen'". Als Ort ihrer Verkündigung hatte sie sich das Holiday Inn auserkoren - ein Schelm, wer Schlechtes dabei denkt. Die "Höchste Meisterin" war seinerzeit nur eine der Heilsbringergestalten in einer langen Kette von Weisheitslehrern asiatischer Provenienz, die dem alten Europa "Erleuchtung" versprachen. Da gab es beispielsweise den "vollendeten vierzehnjährigen Meister", der jahrelang durch Deutschland tourte und auf wundersame Weise immer ein Vierzehnjähriger blieb; nach ihm kamen sein Bruder, dann seine Mutter und noch viele andere. Als die Asienwelle abebbte, schlug die Stunde der selbsternannten indianischen Heiler und Schamanen, die zwar in ihrem eigenen Volk nicht anerkannt waren, dafür aber im spirituell erschlafften Deutschland auf eine zahlungswillige Anhängerschaft trafen. Zur Zeit herrscht eher Ruhe auf dem Erlöserjahrmarkt, vielleicht weil nach den falschen Propheten der "New Economy", den ins Säkulare gewandelten Gurus der neunziger Jahre, die Bereitschaft geschwunden ist, Heilslehren gleich welcher Art zu konsumieren. Das kann sich aber schnell wieder ändern. Ein Blick zurück zeigt, daß schneller Genuß durch kurzlebige Produkte die Konsumgewohnheiten der vollentwickelten Warentauschgesellschaft ausmacht. Ein Produkt, das "Erleuchtung sofort" verspricht, paßt ebensogut zu dieser Szenerie wie Pulverkaffee: Instant Enlightenment für gestreßte Zeitgenossen in führenden Positionen. Wahrheit, Schönheit und Güte müssen "sofort" verfügbar sein, sonst liegen sie nicht im Trend.

Dem Rückgang der weltanschaulichen Bindekraft der christlichen Konfessionen entspricht eine verstärkte Nachfrage nach exotischen Sinnprodukten - man muß sich hier des pseudomarktwirtschaftlichen Kauderwelschs unserer "Geiz ist geil"-Zeit bedienen, wenn man nach dem adäquaten sprachlichen Ausdruck für die Beschreibung der geistigen Lage der Nation sucht. Ist das Produkt aber seriös? Kann es den Konsumwunsch, der es ins Holiday Inn ruft, wirklich zufriedenstellen? Können abendländische Menschen exotische Formen des Kultus und die mit ihnen verbundenen religiösen Vorstellungen überhaupt verstehen?

Der Kultus ist in allen Religionen zugleich Gottesdienst und Dienst am Gemeinwohl. An einem zentralen Begriff des Hinduismus - dharma (Lehre, Gesetz, heilige Pflicht) - wird dies besonders deutlich: Dharma ist die moralische Ordnung, die das Individuum, die Gesellschaft und den Kosmos stützt und erhält. So gibt es kastenspezifische Pflichten und innerhalb jeder Kaste wiederum Pflichten, die dem jeweiligen Lebensalter angemessen sind. Erst ein Leben in Übereinstimmung mit der Kastenordnung erfüllt das dharma und garantiert die harmonische Integration von Person, Gesellschaft und Kosmos. Gebet, kultisches Handeln, Askese, Lernen, Kampf und Krieg, Familiengründung, Kindererziehung, Regieren - alles hat seine richtige Zeit und seinen richtigen Ort, je nach Kastenzugehörigkeit und Lebensphase. Aus dieser Perspektive läuft nichts dem Ethos hinduistischer Religiosität mehr zuwider als der Egoismus jener Europäer, die in einem Alter, in dem sie für ihre Familie sorgen und ihren Beruf ausüben sollten, in Indien Yoga und Spiritualität konsumieren.

Eine Grundierung des christlich-religiösen Lebens ohne das Mythische ist nicht möglich. Der transzendente Gott des Christentums muß im materiellen Medium gegenwärtig und erfahrbar sein, sonst könnte er nicht Gegenstand religiöser Erfahrung werden.

Sieht man von Islam und Judentum ab, dann erscheint der Mensch in allen nichtchristlichen polytheistischen und mythisch geprägten Religionen als Gattungswesen, nicht als selbstbestimmtes Individuum. Im christlichen Menschenbild ist das Verhältnis zwischen Gott und dem Menschen, seinem Geschöpf, ein Ich-Du-Verhältnis. Ohne dieses christliche Bild vom Menschen hätte sich im Abendland die historisch einzigartige Zentralstellung des Individuums in unserem Denken, Fühlen, Handeln nicht herausbilden können, die sich ja auch in der Idee der allgemeinen Menschenrechte niederschlägt. Andererseits ist auch die Grundierung des christlich verstandenen religiösen Lebens ohne das Mythische nicht möglich. Der transzendente Gott des Christentums muß im materiellen Medium gegenwärtig oder seine Nähe erfahrbar sein, sonst könnte er ja gar nicht Gegenstand religiöser Erfahrung werden. Gott kann sich diesseitig offenbaren, beispielsweise auf dem Berg Sinai, muß aber dann eine mythische Form annehmen. Der Mensch kann ja mit dem Transzendenten nur in dieser ihm erfahrbaren Welt kommunizieren. Gott muß in dieser Welt in Erscheinung treten und sich auf eine dem Menschen zugängliche Weise offenbaren, etwa in den Sakramenten.

Aus diesem Grund wurzelt der ganze Komplex der Sakramentenlehre - trotz der Betonung der Transzendenz Gottes im Rahmen der Lehrsätze der Theologie - in einer mythischen Ontologie (Kurt Hübner, Die Wahrheit des Mythos, 1985). Die Lehre von der Gegenwart Christi in der Eucharistie, unter den Mahlgestalten Brot und Wein, setzt das mythische Prinzip der Einheit des Ideellen und Materiellen voraus. Die Einsetzungsberichte gleichen in hohem Maße mythischen Ursprungsgeschichten, denn die Eucharistie geht auf eine in der heiligen Überlieferung beschriebene göttliche Handlung des Religionsstifters zurück. Doch nicht nur in den Sakramenten tut sich in der christlichen Religion die Gegenwart Gottes den Sinnen kund: In vielen antiken Kulturen und mythisch geprägten "Stammesgesellschaften" der Gegenwart galt bzw. gilt der Wohlgeruch als ein Medium der Gotteserfahrung. Im Duft des Weihrauchs offenbart sich die Nähe des Göttlichen; der Pharao verströmt göttlichen Wohlgeruch, und der Duft des Öls, mit dem Jesus gesalbt wird, erfüllt das ganze Haus (Joachim Kügler).

Christlich-monotheistische und mythisch-polytheistische Religion unterscheiden sich zwar voneinander unter anderem dadurch, daß es innerhalb des Christentums - anders als im polytheistischen Mythos - überhaupt nur ein Wesen gibt, in dem Gott, in der Gestalt des Kindes, Fleisch geworden ist. Die christlichen Sakramente gelten jedoch als Fortführung und Personifizierung des Heilshandelns Christi; sie setzen das Mysterium der Fleischwerdung in der Verbindung von göttlichem Wort und Materie fort. Wasser, Brot, Wein und Öl und sogar die körperliche Vereinigung von Mann und Frau in der Ehe sind - jedenfalls nach katholischer Auffassung - stoffliche Träger des Sakraments. Im mediterranen und nahöstlichen Kulturraum sind sie allesamt alte vorchristliche Symbole des Heiligen. Der hieros gamos, die "heilige Hochzeit" ist darüber hinaus ein weltweit verbreitetes Realsymbol für die Gegenwart des Numinosen in der Vereinigung des Komplementären.

In welchem Maß das Christentum selbst uns jene exotische Spiritualität zuführt, nach der heute viele als Alternative zur christlichen Religion suchen, macht sogar ein Gebet wie das Apostolische Glaubensbekenntnis deutlich: "empfangen durch den Heiligen Geist, geboren von der Jungfrau Maria".

Die mythischen Themen der Geburt Jesu durch die Jungfrau und seiner Gottessohnschaft verweisen auf die Mythologien Persiens, Ägyptens, Griechenlands. Das Mythologem der wunderbaren Geburt des göttlichen Kindes ist weltweit verbreitet.

Eine der Spuren des "göttlichen Kindes" und seiner "jungfräulichen Mutter" führt zu einem ägyptischen theologischen Lehrsatz, der bis zur 5. Dynastie um die Mitte des dritten Jahrtausends vor unserer Zeitrechnung zurückreicht. Amon-Re, der Sonnengott, vereinigt sich in der Gestalt Pharaos mit der als Jungfrau gedachten Königin, die so zur Mutter des Gottes Horus wird, der sich im "göttlichen Kind", dem neuen Pharao, inkarniert. Die Jungfräulichkeit der Königin wird dabei als Selbstverständlichkeit vorausgesetzt; sie ist noch kein religiöses Thema. Erst in der graeco-ägyptischen Priesterlehre gewinnt das Jungfrauenmotiv theologische Bedeutung, um schließlich als Lehre von der Gottesmutterschaft der Jungfrau Maria in die Glaubessätze der christlichen Kirchen einzugehen.

Das von der Jungfrau geborene göttliche Kind, das neues Leben, Licht, neue Hoffnung bringt - auf die eine oder andere Weise erscheint es in den Mythen aller Völker, und so kennt es auch das Abendland. Um das Jahr 40 vor Christi Geburt dichtet Vergil in seiner 4. Ekloge: "Schon kam das Ziel der Zeit, von dem die Sibylle einst raunte, / wiedergeboren beginnt ein neuer Kreis der Äone. / Schon kehrt die Jungfrau zurück, Saturns Regierung kehrt wieder, / schon wird ein neuer Sproß entsandt aus himmlischen Höhen. / Dieses Knaben Geburt beschirme, reine Lucina! / Er macht ein Ende der eisernen Zeit; eine goldene Menschheit / wird die Erde dann füllen". Versuchte man früher, Vergils Gedicht christlich auszudeuten, so hat die Wissenschaft davon seit langem Abstand genommen. Die mythischen Themen der Geburt Jesu durch die Jungfrau und seiner Gottessohnschaft verweisen vielmehr auf die umliegenden Mythologien Persiens, Ägyptens, Griechenlands.

Das Mythologem der wunderbaren Geburt des göttlichen Kindes ist sogar weltweit verbreitet. Um nur ein Beispiel zu nennen: Auf Coatlicue, die aztekische Göttin "mit dem Schlangenrock", fiel einst ein Federbausch herab. Sie ergriff ihn und steckte ihn unter ihren Rock, wurde schwanger und gebar Huitzilopochtli, den jungen Kriegs-, Sonnen- und Stammesgott der Azteken, den sie auf wunderbare Weise empfangen hatte. Jeden Tag kommt er aus dem Schoß der alten Erdmutter, und jeden Abend stirbt er. Nach seiner Geburt nimmt er sogleich den Kampf gegen die Mächte der Finsternis auf, und sein Sieg bedeutet, daß die Menschen einen weiteren Tag leben dürfen (Richard Nebel).

In der Nacht vom 24. auf den 25. Dezember heutiger Zeitrechnung versammelten sich in Alexandria die Gläubigen in einem unterirdischen Versammlungsraum. Um Mitternacht fanden dort Einweihungszeremonien statt. Bei Tagesanbruch verließen die Mysten das Allerheiligste. Die Statue eines Knäbleins als Symbol des neugeborenen Sonnengottes wurde ihnen vorangetragen. Sobald die Strahlen der aufgehenden Sonne auf die Gläubigen fiel, brachen sie in den Ruf aus: "Die Jungfrau hat geboren, das Licht nimmt zu." Schriftliche Zeugnisse für diese Zeremonie lassen auf ihr hohes Alter schließen, das in die Jahrhunderte vor Christi Geburt zurückreicht. Mit gutem Grund hat die Kirche das Fest der Geburt des Herrn auf dieses symbolträchtige Datum gelegt.

Auch das spätere Wirken Jesu Christi ist gleichsam in den Mantel mythischer Überlieferung gehüllt. Das Apostolische Glaubensbekenntnis ist hier wie ein Wegweiser, der uns auf die Spur des Mythos führt. Die Gebetsworte "hinabgestiegen in das Reich des Todes, am dritten Tage auferstanden von den Toten" führen zu den Upanischaden, zum Mythos der Jenseitsreise des Naciketas, der von seinem Vater geopfert werden möchte, für drei Nächte in das Reich des Todes eingeht und als Überwinder des "Wiedertodes", des wiederholten Sterbens im Jenseits, zurückkehrt. Das hinduistische Prinzip der Karma-Übertragung verweist auf ein Vorbild für die Lehre von Jesu Messiasgestalt: Gott selbst oder ein besonders gütiger Mensch läßt sein religiöses Verdienst aus Mitleid anderen zukommen, um sie vor grausamen Höllenstrafen zu bewahren.

Beispiele dieser Art ließen sich noch um ein Vielfaches vermehren. Sie alle halten uns eines vor Augen: Das Fremde, Exotische, wird uns durch das Christentum als Eigenes zugeführt, auch wenn wir dies nicht auf den ersten Blick erkennen. Daran muß jede "Entmythologisierung" scheitern, daran ist sie gescheitert. Das Kind, mit dem die Welt neu beginnt, ist ein Bild, das man in jeder Kultur versteht - ehren wir es, halten wir an ihm fest. Es ist unsere Chance. Unsere Zeit und unser Land haben die Wiederkunft des "göttlichen Kindes" in der Krippe, das die ganze Welt wieder in die Unschuld des Beginns zurückführt, bitter nötig.

 

Prof. Dr. Thomas Bargatzky lehrt Ethnologie an der Universität Bayreuth.

Foto: José de Ribera, Anbetung der Hirten (Detail), 1650, Öl auf Leinwand: Gott wird leibhaft erfahrbar


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