© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 51/06 15. Dezember 2006

Gelungene Definition des Unähnlichen
Gudrun Krämer schafft mit ihrer Geschichte des Islam eine kompakte Darstellung / Die verschiedenen historische Aspekte divergieren leider qualitativ
Wolfgang Saur

Islamkunde in Europa umfaßt traditionell Sprachunterricht und Religionslehre: Arabisch, Persisch und Türkisch sowie Koran-Exegese und Hadith-Studium. Flankiert wurden diese Kernkompetenzen von literar- und kunsthistorischen Themen, etwa zur Kalligraphie oder der Kunst des Ornaments. Prophetenbiographik und Profangeschichte ergänzten den zwar unpolitischen, in spiritueller Hinsicht jedoch bisweilen erstaunlich kreativen Diskurs. Annemarie Schimmel oder Richard Gramlich bezeichnen diese Tradition, Frithjof Schuon hat sie klassisch pointiert ("Den Islam verstehen"). Ihr religiöser Impetus war kulturkritisch motiviert: Die säkulare Moderne vertreibt nicht bloß die Religion, sie erodiert auch menschliche Integrität. Aus einer metaphysischen Sicht des Menschseins, keiner politischen, konnte die Orientalistik so zum Instrument humaner Zurüstung werden.

In der globalen Welt freilich, die uns Kulturkämpfe aufzwingt, welche den Zentralkonflikt neu aufstellen, muß auch die Islamkunde politkundig werden und an der Klärung akuter Probleme mitwirken. Für einen Paradigmenwechsel gar wirbt derzeit der Göttinger Politologe Bassam Tibi. Gudrun Krämer wird nun dieser neuen Lage durchaus gerecht, ohne die traditionelle Potenz des Fachs zu verwerfen. Ihre große Islamgeschichte bestätigt das; sie hat das Zeug zum neuen Standardwerk. Krämer, seit 1996 Ordinaria für Islamstudien an der Freien Universität Berlin, ist schon jahrelang eine markante Stimme im öffentlichen Dialog um den Konfliktherd Nahost. Die akademische Diskursgemeinschaft verfolgt ihr überlegen-umsichtiges Urteil im wissenschaftlichen Feld - so zuletzt in der Kontroverse um Michael Borgoltes Mittelalterdeutung als zeitgeistige Multikultiprojektion. So kann ihr Bild von 1.400 Jahren Islam mit ungeteilter Aufmerksamkeit rechnen.

Die historisch, politologisch und islamkundlich Ausgebildete, 1994 als Islamwissenschaftlerin Habilitierte, hat 1982 bis 1994 als Beraterin im Zentrum Ebenhausen, von 1987 bis 1989 als Professorin für gegenwartsbezogene Orientwissenschaft in Hamburg, 1994 bis 1996 in Bonn und seither in Berlin gewirkt. Ihre Publikationen spiegeln das wider: "Ägypten unter Mubarak" (1986), "Gottes Staat als Republik. Zeitgenössische Muslime zu Islam, Menschenrechten und Demokratie" (1999) und "Geschichte Palästinas" (2002).

Krämer erschließt das riesige Material gleichzeitig religions-, politik-, sozial- und kulturgeschichtlich und arbeitet diese Aspekte fugenlos in eins. Zunächst plausibel erweist sich die Struktur nach Themenwahl und Proportion. Überaus kenntnisreich bietet die Arbeit hohe Information, Genauigkeit und kritische Differenz. Daneben bereichert der Bildteil die dichte Erzählung produktiv um neue Aspekte. Was das Tiefenverständnis der Autorin betrifft, zeigt der Text die Stärken und Schwächen bald. Ihr eigentliches Feld ist die Sozialgeschichte, als solche überzeugt die Arbeit durchaus. Sie entwickelt tragfähige Strukturbegriffe: über "konfliktfähige Gruppen", "Beziehungsgeschichten", zur Bürokratisierung, zu Bildungseinrichtungen, den Ulama oder zur Typologie des Kolonialismus. Solche Muster geben der Darstellung Struktur, die leider sonst schwach ausgeprägt ist. So in den großen politikgeschichtlichen Teilen, die sich allzu breit internen Machkämpfen, den dynastischen Konflikten oder der Prophetennachfolge widmen.

Generell ist Krämers Islamgeschichte zu kleinteilig, zu faktenselig gearbeitet, interpretatorisch hingegen unterpointiert. Mehr überzeugen ihre Reflexionen in kritischer Absicht, so zur Toleranz, über den Status von Nichtmuslimen im Islam und die Grundstrukturen islamischer Herrschaft oder zum Nexus von Gotteswort, sozialer Gemeinschaft und politischem Kampf. Nebenbei demontiert sie den westlichen "Kreuzzugskomplex", dann verfolgt sie heutige Selbstmordattentäter zurück bis auf die "Assassinen" um 1100. Trocken bleibt das eigentlich Religionsgeschichtliche: Instruktiv liest sich die Genese der Madrasen, dürr, uninspiriert hingegen fällt ihre Darstellung zum Sufismus (der Mystik) wie zur Volksfrömmigkeit aus. Nebensächliche Details überwuchern die großen Gestalten Rabias, der al-Halladsch oder Ibn Arabi, während eine bündige Charakteristik ihrer Hauptgedanken und asketischen Praxis fehlt. Vollends enttäuscht die kulturgeschichtliche Dimension: Sie erschöpft sich in summarischen Hinweisen und verwirrender Namenshäufung.

Krämers zu flächig veranlagte Islamgeschichte zeigt zwar positivistische Faktengläubigkeit, aber wenig Deutungsprofil. Kreativ bleibt sie deshalb zurück hinter Karen Armstrongs Islamgeschichte (2001) oder Albert Houranis "Geschichte der arabischen Völker" (1992). Der Anschaulichkeit mangelt es zudem durchwegs.

Die Darstellung der großen neuzeitlichen Reiche: der Osmanen, Safawiden, Großmoguln, analysiert der Schlußteil, "Reform, Aufbruch, Umbruch", das 19. und 20. Jahrhundert entsprechen den Spezialgebieten der Autorin und fesseln den Leser unbedingt - leider nicht quantitativ. So fallen 25 Seiten für die Zeit nach 1900 einfach zu knapp aus. Zumal vermißt man eine energische Problemskizze der Gegenwart und mutige Perspektive auf kommende Szenarien: jener Kräfte, die im Konflikt von Religion und Säkularisierung, von Universalismus und Identität, von Inklusion und Exklusion unser Schicksal konfigurieren. Hinweise dazu hat Krämer aber aus ihren anderen Büchern nicht ins aktuelle Werk übertragen. Derweil bleibt ihre Islamhistorie eine respektable Leistung und ernste Referenzgröße, eine repräsentativen Stimme heutiger Islamwissenschaft.

Gudrun Krämer: Geschichte des Islam. C.H. Beck, München 2006, gebunden, 334 Seiten, Abbildungen, 24,90 Euro


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