© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 51/06 15. Dezember 2006

Diktator und Reformer
Chile: Ex-Präsident Augusto Pinochet 91jährig verstorben / Seine fast 17jährige Herrschaft hat das Andenland tief geprägt
Hans-Peter Müller

Die historischen Rückblicke zu Augusto José Ramón Pinochet Ugarte, der am 10. Dezember in Santiago verstarb, beginnen meist mit dem von ihm mitgeführten Militärputsch. Dabei hatte dieser 11. September 1973 eine Vorgeschichte, ohne die Chiles Diktatur - auch die Zustimmung, die Pinochet zeitweilig in der Bevölkerung fand - nicht zu verstehen sind.

Der blutige Putsch beendete das drei Jahre währende Experiment des gewählten Präsidenten Salvador Allende, der angekündigt hatte, das Land "auf demokratischem Wege" in eine sozialistische Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung zu überführen. Obwohl nur eine Minderheit im Parlament ihn unterstützte, setzte Allende über zweifelhafte Präsidialedikte die Enteignung eines Großteils der Bodenschätze, der Industrie und des Gewerbes sowie der Landwirtschaft durch. In der Folge dieser Kollektivierung brach die Produktivität der chilenischen Wirtschaft dramatisch ein, und die Exporterlöse sanken, während die staatlichen Haushaltsdefizite auf bedrohliche Höhen stiegen, immer finanziert durch frisches Zentralbankgeld.

1973 erreichte die Inflationsrate zwischenzeitlich über 700 Prozent. Als die Versorgungslage sich immer mehr zuspitzte, kam es zu bürgerlichen und linken Protesten, friedliche Demonstrationen endeten in Zusammenstößen mit der Polizei. Militante Gruppen von links und rechts verübten Bombenanschläge. Bei einem Marsch der Hausfrauen beschimpften diese das Militär wegen seiner Untätigkeit. Das Parlament beschloß am 22. August eine Resolution, die förmlich als Aufforderung zum Militärputsch gelesen werden konnte. Der 57jährige General Pinochet, erst kurz zuvor von Allende zum Heereschef ernannt, übernahm die Macht in einer Chaossituation. Das einst zu den wohlhabendsten südamerikanischen Ländern zählende Chile war verarmt und desorientiert.

Die Gefahr, in den Machtbereich der Sowjetunion zu geraten, war 1973 real. Insofern erschien Pinochets Putsch auch als ein Beitrag im weltweiten Kalten Krieg. Was dann folgte, entzweit das Land bis heute: Zum einen gab es eine unerbittliche Verfolgung Oppositioneller. Die Sozialistische und die Kommunistische Partei wurden zerschlagen, die bürgerlichen Parteien lösten sich selbst auf.

Liberale Wirtschaftspolitik im Sinne der "Chicago Boys"

Über 3.000 Oppositionelle kamen ums Leben, die berüchtigte Geheimpolizei folterte Zehntausende, einige zigtausend Menschen emigrierten. Auch die Familie der heutigen sozialistischen Staatspräsidentin Verónica Michelle Bachelet Jeria wanderte aus - zunächst in die DDR, die die chilenischen Linken mit offenen Armen empfing.

Weltweit wogte eine Welle der Empörung über die Vorgänge in Chile, wobei der Abbruch des sozialistischen Experiments mindestens ebenso betrauert wurde wie die Gewaltexzesse, die auch aus anderen lateinamerikanischen Diktaturen - inklusive Kuba - bekannt waren.

Andererseits nahm Chile unter Pinochet eine positive Wirtschaftsentwicklung. Nachdem die Junta zunächst nicht wußte, wie das ökonomische Chaos zu beheben sei, hörte sie auf den Rat der "Chicago Boys", einer Gruppe in den USA ausgebildeter Ökonomen, die eine marktliberale Roßkur empfahlen.

Eine drastische Kürzung des Staatsdefizits brachte schließlich den Sieg über die Inflation, die verstaatlichte Wirtschaft wurde privatisiert, Außenhandelsliberalisierung und Deregulierung beendeten die protektionistische Tradition. Dies machte Chile zu einem der attraktivsten südamerikanischen Länder für Investoren. Hohe Wachstumsraten und gute Aufstiegschancen erklärten, weshalb die Regierung Pinochet besonders bei der Mittelschicht beliebt war.

Ungewöhnlich war auch, wie Pinochet Stück für Stück die Macht wieder abgab und sich demokratischen Regeln unterwarf. Nach einer Volksabstimmung trat 1981 eine neue Verfassung in Kraft, die nach einer Übergangsfrist eine Abstimmung über Pinochets Präsidentschaft und freie Wahlen vorsah. Ende 1988 stellte er sich einem Referendum, bei dem sich knapp 57 Prozent gegen eine weitere Amtsperiode Pinochets aussprachen.

Der General akzeptierte seine Niederlage und zog sich auf den Posten des Oberbefehlshabers des Heeres zurück. Zuletzt genoß er als Senator auf Lebenszeit eigentlich Immunität, dennoch wurde er bei einem Besuch in London 1998 auf Antrag eines spanischen Richters völkerrechtswidrig festgenommen, aber nach mehr als 500 Tagen Hausarrest als nicht vernehmungsfähig entlassen.

Der Rückhalt, den der greise General in seinem Heimatland genoß, schwand, als seine Auslandskonten mit hohen Dollar-Guthaben bekannt wurden. Sollte der selbsternannte "Retter des Vaterlandes" sich persönlich bereichert haben? Am Tag nach Pinochets Tod gab es in einigen Städten des Landes Straßenschlachten zwischen Anhängern, Gegnern und der Polizei. Chile steht heute wirtschaftlich und politisch besser da als alle anderen Staaten Südamerikas. An der Erinnerung trägt es aber weiter schwer.


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