© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 50/06 08. Dezember 2006

Vergessene Hüter unserer Kultur
Ein etwas anderer Reiseführer: Auf Spurensuche in früheren deutschen Siedlungsgebieten in Osteuropa
Matthias Bäkermann

Es gibt sie noch. Deutsche, die jenseits von Oder, Neiße, March oder Karawanken in ihren seit vielen Generationen besiedelten und kulturell geprägten Gebieten leben. Vor etwa hundert Jahren, vor Beginn des Ersten Weltkriegs, traf man vielerorts zwischen Finnischem Meerbusen, Schwarzem Meer bis weit nach Rußland und in den Balkan hinein auf Sprachinseln, städtisches Bürgertum, Großgrundbesitzer oder größere geschlossene Siedlungsgebiete, in denen teilweise seit dem Hochmittelalter Deutsche lebten und ihre ethnische Autonomie behaupteten. Egal, ob baltischer Großgrundbesitzer in Estland, Stadtbürger in Riga, Lodsch, Czernowitz oder Hermannstadt, Bauer in Wolhynien, Bessarabien oder im Banat, Händler oder Handwerker in der Zips oder der Gottschee, überall standen die Deutschen gesellschaftlich im gehobenen Mittelfeld, machten nicht selten die kulturell prägende Oberschicht aus.

Das Jahrhundert der Weltkriege, der Diktaturen, der Nationalitätenkonflikte und der Transformationen hat das Bild Europas völlig verändert. Im besonderen Maße darf man das von den Deutschen im Osten behaupten, die vielfach fast spurlos aus ihren dortigen Heimatregionen verschwunden sind. Waren schon die Verhältnisse als geduldete Minderheit zwischen den Weltkriegen für viele in den oft chauvinistischen jungen Nationalstaaten schwierig und sogar existenzbedrohend, beendete die Umsiedlung während des Krieges (Bessarabien, Buchenland, Baltikum und Gottschee), dann in noch brutalerer und endgültiger Form die Vertreibung nach 1945 über die geschlossenen Siedlungsräume der Ostprovinzen des Deutschen Reiches und des Sudetenland hinaus fast jegliche Existenz des Deutschtums in Ost-Mitteleuropa.

Der Historiker und Germanist Martin Schmidt hat sich nicht erst für die Arbeit zu seinem aktuellen Reisebericht mit der Situation der Verbliebenen vertraut gemacht. Bereits seit den achtziger Jahren konnte er durch ständige Besuche ein Bild von deren Lebensverhältnissen gewinnen, was ihm heute eine oftmals ernüchternde Bestandsaufnahme gestattet. So wurden nach der Wende 1989/90 die wenigen Relikte deutschen Lebens in Mittelosteuropa - besonders im rumänischen Teil des Banat, in Siebenbürgen, aber auch in Oberschlesien - durch einen Massenexodus nach Deutschland nahezu entvölkert. Zurück blieben mehrheitlich die Alten, die ihre Heimat nicht mehr verlassen wollten.

Zwar spüren Schmidt und die anderen Beiträger immer wieder hoffnungsvolle Ansätze auf, die dafür sprechen, daß in einer Generation doch nicht alles vorbei sein muß und sich die Einmaligkeit der alten deutschen Dialekte, der Sitten und Gebräuche erhalten mag. Dennoch darf man konstatieren, daß der Band in den meisten Fällen neben nostalgischen Rückblicken wohl doch auch die letzte Möglichkeit einer Bilanz wahrnimmt.

Selbst dort, wo über die Architektur, die Gemarkungen, nicht selten sogar alte Inschriften die deutschen Spuren omnipräsent sind - in den früheren deutschen Ostprovinzen -, will eine positive Perspektive kaum entstehen. So kann Thorsten Hinz in seinem Beitrag über das "Blaue Ländchen", dem bereits nach Versailles das Los provinzieller Abgeschiedenheit im östlichsten Zipfel Hinterpommerns zuteil wurde, heute nur noch eine Ausstellung zur Kenntnis nehmen, in der ortsansässige Polen deutschen Touristen die Geschichte eines "zweiten Peenemünde" erzählen wollen. Absehbar wird sein, daß mit dem Wegsterben der "Heimwehtouristen" deutsche ebenso wie polnische Sonnenanbeter am weißen Ostseestrand der Strandbar "Drink Bar Malibu" mehr Aufmerksamkeit entbieten werden.

Noch deprimierender dürfte die Aussicht in den von der Furie des Krieges arg in Mitleidenschaft gezogenen Gebieten wie Ostbrandenburg oder dem östlichen Ostpreußen sein, wo teilweise die Hälfte der Bewohner der Gewalt der Roten Armee zum Opfer fiel, bevor der Rest vertrieben wurde. Heute kann dort den ebenso freizeitorientierten wie geschichtsvergessenen Bundesrepublikanern selbst der frühere landschaftliche Reiz nicht mehr geboten werden, da die frühere Kulturlandschaft oft einer steppenartigen Tristesse wich.

Kaum eine Provinz, kaum eine Region läßt der Band unberücksichtigt, selbst bei den letzten Nachkommen der Mennoniten in Baschkirien am Südural, der Exklave der Banater Bulgaren zwischen Donau und Balkangebirge oder den Ortschaften Helenendorf und Katharinenfeld im südlichen Kaukasus hat der Herausgeber eine Bestandsaufnahme gemacht. Obwohl auch hier immer nur von "den Letzten" berichtet werden kann, nach denen der Exodus in die Bundesrepublik zwangsläufig zum Stillstand kommen muß, gewinnt Schmidt beim Entdecken kleiner Mosaiksteinchen deutscher Sprache und Kultur der Tragik immer noch etwas Positives ab - und sei es die Faszination daran, daß sich an so unerwarteten und fernen Orten Vertrautes wiederfindet. Doch aus welcher Region er auch berichtet, permanent droht, daß "die Letzten" auch "das Licht ausmachen" werden, daß sich mit ihrem Weggang nach Deutschland der seit vielen Generationen, teils Jahrhunderten gehütete kulturelle Schatz sich im immer homogener werdenden Einerlei der Bundesrepublik auflösen wird, sollte er sich nicht "biologisch bedingt" an Ort und Stelle erledigen.

So frustrierend diese voraussichtlich letzte Bestandsaufnahme ausfällt, Schmidt vermag auch Versöhnliches, manchmal sogar Hoffnungsvolles zu präsentieren - alles übrigens immer gespickt mit vielen Kontaktadressen. So schildert er das siebenbürgische Dorf Malmkrog, an welchem der die alten Orte samt Kirchenburgen oft verwaist oder mit Zigeunern besiedelt zurücklassende Exodus nach 1990 vielleicht gerade wegen seiner Abgeschiedenheit vorübergegangen zu sein scheint. Dort leben viele auch junge sächsische Familien, es existieren - wie sonst nur noch in den größeren Städten wie Hermannstadt oder Schäßburg - ein Kindergarten und Schule mit sächsischen Lehrerinnen, die zwecks Spracherwerbs auch gerne von den mehrheitlichen Rumänen- und Zigeunerkindern besucht werden. Der reizvolle Ort vermochte sogar einen waschechten Berliner anzuziehen, der sich unter den Sachsen ansiedelte und sich von vielen oft materiellen Widrigkeiten nicht schrecken ließ. Inzwischen werden zumindest in der warmen Jahreszeit die letzten Verbliebenen durch die "Sommersachsen" verstärkt, die es in den Ferien - oft investitionslustig - in den Karpatenbogen zieht.

Diese Widrigkeiten, auf die gerade diese Woche wieder die Siebenbürgische Zeitung, das professionell gemachte Organ der Landsmannschaft der Siebenbürger Sachsen in Deutschland (www.SiebenbuergeR.de) hinwies, haben auch etwas mit der zunehmenden Vernachlässigung der Deutschen in Ostmitteleuropa durch die Politik der Bundesrepublik zu tun. Die Fördermittel der öffentlichen Hand, insbesondere die des Bundesinnenministeriums, fließen immer spärlicher und erreichen die häufig notleidenden älteren Menschen in den Transformationsgesellschaften wie eben hier in Rumänien nicht. Eine kulturelle Bestands- oder gar Aufbauarbeit ist unter diesen Bedingungen natürlich erst recht hinderlich. Vielleicht ist Schmidts äußerst anregende, informative und vielseitige "letzte Bilanz" ein Beitrag dazu, daß das Interesse am kulturelle Erbe im Osten Europas im Ursprungsland wieder geweckt wird und nachfolgende Generationen sich aus dieser lebendigen Schatztruhe unserer eigenen Kultur bedienen können. 

Foto: Unentwegter Siebenbürger im sächsischen Kirchenpelz: Die Kulturarbeit der Deutschen muß auf Unterstützung aus Berlin verzichten

Martin Schmidt (Hrsg.): Reisen zu den Deutschen im Osten Europas. Zwischen Oder und Memel, Karpaten und Kaukasus. Ares Verlag, Graz 2006, 240 Seiten, gebunden, Abbildungen, 29,90 Euro


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