© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 50/06 08. Dezember 2006

Asien ist Konfliktherd Nummer eins
Bertelsmann-Studie: Religiöse Konflikte sind nicht die Hauptursache von Terrorismus und politischer Gewalt
Alexander Griesbach

Nicht der Nahe Osten, sondern Asien ist laut einer Studie der Bertelsmann-Stiftung der geographische Schwerpunkt politisch motivierter Konflikte bzw. terroristischer Anschläge. Da im Westen der Fokus vor allem auf dem Nahen Osten liege, sei ein verzerrtes Bild von der Lage die Folge. Dazu gehöre auch die Überbetonung religiös motivierter Gewalt, die keineswegs die Hauptursache gewalttätiger oder terroristischer Aktivitäten ist.

Hauptfaktor seien vielmehr "separatistische" oder "nationalistische" Bewegungen. Armut, ethnische Konflikte, Staatsschwäche, Defizite des jeweiligen politischen Systems und externe Interventionen seien die wichtigsten Verursacher gewalttätiger Konflikte.

Diese Feststellungen sind ein wesentliches Ergebnis der im November vorgestellten Studie "Violence, Extremism and Transformation". In den letzten Jahren sei die Zahl der Opfer um mehr als das Dreifache gestiegen, und zwar vor allem in den Konfliktregionen Irak, Kolumbien, Tschetschenien sowie in den Länderdreiecken Indien-Kaschmir-Pakistan sowie Thailand-Philippinen-Indonesien. Dieser "Kerngruppe" von Staaten ließen sich etwa 80 Prozent aller terroristischen Anschläge zuordnen, wie Studienautor Aurel Croissant von der Uni Heidelberg hervorhob.

Das Datenmaterial wurde im Rahmen des "Bertelsmann Transformation Index" 2006 (BTI) zusammengestellt. Der BTI erhebt alle zwei Jahre Daten und Berichte zum Stand von Demokratie und Marktwirtschaft sowie zur Qualität der Regierungsarbeit in 119 Staaten.

In einer Zusatzbefragung werden in Zusammenarbeit mit etwa 250 Experten Informationen über die Stärke nichtstaatlicher politischer Extremisten, das Ausmaß ihres Einflusses, den Umfang ihrer Unterstützer und über deren Gewaltbereitschaft erhoben. In die Studie flossen überdies Daten der Konfliktdatenbank Conis an der Universität Heidelberg sowie der RAND/MIPT-Terrorism Knowledge Database ein.

Die Ergebnisse dieser Datenerhebung lassen sich so zusammenfassen:

l Die 119 Staaten, die mittels BTI 2006 (Zeitraum 2003-2005) bewertet wurden, waren durch eine zunehmende Zahl innerstaatlicher Konflikte gekennzeichnet, während die Zahl extrem gewalttätiger Konflikte im Sinken begriffen war. Die Hauptgebiete innerstaatlicher Konflikte bleiben Asien und Ozeanien, der Mittlere Osten und Nordafrika (Mena). Das Ausmaß "ethnonationalistischer" Konflikte, die durch Autonomie- und Abspaltungsbestrebungen gekennzeichnet sind, hat abgenommen; Unterdrückung und Diskriminierung ethnischer Minoritäten haben sich vermindert.

l Das Ausmaß und der Tenor des religiös motivierten Terrorismus und Extremismus haben sich vertieft, insbesondere in Süd- und Südostasien sowie in den Mena-Staaten. In diese Region liegen auch die oben angesprochenen Kernstaaten politisch motivierter Gewalt bzw. terroristischer Aktivitäten.

l Während die negativen Auswirkungen durch politischen Extremismus und Gewalt auf Demokratie und Entwicklung offensichtlich sind, ist der Zusammenhang zwischen demokratischen Regimewechsel und ökonomischen Transformationsprozessen komplexer. Aufgrund von BTI-Erhebungen kann festgehalten werden, daß die Wahrscheinlichkeit bewaffneter Konflikte steigt, je weniger demokratisch ein Regime wird. Ähnlich verhält es sich im Hinblick auf die Ökonomie: Je besser der Status des Transformationsprozesses, desto geringer die Wahrscheinlichkeit bewaffneter Konflikte.

l Politischer Extremismus und politische Gewalt wurzeln in einer Kombination aus internationalen, sozialen, politischen und ökonomischen Faktoren. Systeme, die auf Machtverteilung basieren (repräsentative Demokratie, föderale Staaten), bilden in gesellschaftlich gespaltenen Staaten die beste Voraussetzung für eine Konfliktbewältigung.

l Politisch motivierte Gewalt und Terrorismus konfrontieren die liberalen Demokratien des Westens mit einer Reihe von Herausforderungen. In vielen Staaten werden kurzfristige Strategien, die vorbeugende und abschreckende Maßnahmen verbinden, mit langfristigen Konzepten verbunden, die auf politische, kulturelle und ökonomische Ursachen abzielen. Die Erfolgsaussichten, eine von politisch motivierter Gewalt gekennzeichnete Gesellschaft (etwa die des Irak) durch von außen gesteuerte Überwachung oder durch eine auferlegte Demokratisierung zu befrieden, sind besonders schlecht.

"Die Umsetzung von externen Strategien für die Demokratisierung, Staatsaufbau und Entwicklung braucht eine dauerhafte Perspektive und stößt zudem schnell an ihre Grenzen, wenn die lokalen Entscheidungsträger nicht bereit sind, Verantwortung für eine stabile und demokratische Ordnung zu übernehmen", erklärte Sabine Donner, Projektleiterin bei der Bertelsmann-Stiftung.

Westliche Entwicklungshilfe müsse sich mehr als bisher auf Armutsbekämpfung, Demokratieförderung sowie die Unterstützung "guter Regierungsarbeit" konzentrieren. Zum Konfliktmanagement müsse von westlicher Seite überdies eine umfassendere und nachhaltigere Entwicklungsstrategie treten.

Foto: Wütende Inder nach Terroranschlag: Konfliktträchtiges Länderdreieck Indien-Kaschmir-Pakistan

Die Bertelsmann-Studie findet sich im Internet: www.bertelsmann-stiftung.de/bst/de/media/xcms_bst_dms_19386_19436_2.pdf 


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