© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 49/06 01. Dezember 2006

Eine diffuse Angst geht um
Libanon: Die Ermordung des christlichen Ministers Gemayel offenbart erneut die Zerbrechlichkeit des Staates
Günther Deschner

Die Vertreibung der Syrer vor einem Jahr, der Bombenkrieg Israels in diesem Sommer, die sich zuspitzende Regierungskrise in Beirut, das Attentat auf den christlichen Industrieminister Pierre Gemayel, ein drohender Bürgerkrieg: Immer wieder aufs neue liefert das kleine Land am Mittelmeer, eingezwängt zwischen die "Frontstaaten" Israel und Syrien, große Schlagzeilen.

Der von der einstigen Kolonialmacht Frankreich vor 80 Jahren aus der gleichnamigen osmanischen Provinz zusammengeschusterte und 1943 in die Unabhängigkeit entlassene Kleinstaat Libanon hat bis heute keine Identität gefunden. Perioden inneren Friedens sind selten und jeweils nur von kurzer Dauer. Die schätzungsweise knapp vier Millionen Libanesen bilden einen Flickenteppich aus 18 Religionsgemeinschaften.

Immer mehr Muslime und dafür weniger Christen

Dafür gibt es viele Gründe, angefangen bei der besonderen Topographie: Mit 10.452 Quadratkilometern nur halb so groß wie Sachsen-Anhalt, ist der Libanon ein Land mit hohen Bergketten und isolierten Tälern. Auch deshalb zog es in der Geschichte verfolgte Minderheiten dorthin - die christlichen Maroniten aus dem heutigen Syrien, die Gemeinschaft der Drusen (stark vereinfacht: ein Mix aus Islam und antikem Heidentum), verfolgte Armenier, Kurden und seit der Existenz Israels 450.000 Palästinenser. Zwischen 60 und 65 Prozent der Bevölkerung sind inzwischen Muslime. Auch wegen ihrer hohen Geburtenrate sind die Schiiten mit 1,4 Millionen heute die stärkste Bevölkerungsgruppe. Der prozentuale Anteil der derzeit noch fast einer Million Christen geht - auch wegen ihres Zweikinderdurchschnitts und der hohen Auswanderung - ständig zurück.

Der Proporz der schon seit der Unabhängigkeit konkurrierenden Konfessionen schlägt sich im politischen System nieder: Laut Verfassung ist der Staatspräsident immer ein maronitischer Christ (derzeit Emile Lahoud), der Ministerpräsident ein Sunnit (Fuad Siniora), sein Vize ein Orthodoxer, der Parlamentspräsident ein Schiit (Nabih Berri), der Justizminister ein Druse usw. Weil man um die 1943 verordnete und längst überholte Machtbalance fürchtete, gab es seit Jahrzehnten keine Volkszählung mehr. Die verschiedenen Gruppen kämpften 1974 bis 1990 in einem grausamen Bürgerkrieg um die Vorherrschaft. Die Nachbarn, vor allem Israel und Syrien, mischten kräftig mit. Um ihr Überleben zu sichern, riefen die Maroniten die syrische Armee zu Hilfe. Die syrische Ordnungsmacht beendete den Bürgerkrieg. Unter ihrer Regie einigte man sich 1990 auf eine halbherzige Revision des Machtsystems. Wenigstens im Parlament haben Christen und Muslime seither die gleiche Zahl von Sitzen.

Die gegenwärtige Krise zeigt ungeschminkt, daß der Libanon dennoch der schwache Staat geblieben ist, der er seit seiner Gründung war. Mit seinen Institutionen kann er sich nicht vor den unentwegten Zerreißproben schützen, denen er ausgesetzt ist. Wegen seiner umstrittenen Machtbalance entlang konfessioneller Trennlinien, aber auch wegen der nur an ihren partikularen Zielen orientierten mächtigen Familienclans (der drusischen Dschumblatts, der sunnitischen Hariris und der maronitischen Gemayels) und wegen der ungestümen Machtpolitik der schiitischen Hisbollah ist die libanesische Regierung zu energischem Handeln unfähig. Im konstitutiven Ringen um Macht schenken sich die Parteien gegenseitig nichts. Alle ohne Ausnahme haben bewiesen, daß Heimtücke, Brutalität und Mord für sie eine Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln ist.

Die wirtschaftlichen Probleme, die sich aus Israels jüngstem Krieg ergeben, der vorgeblich der Hisbollah galt, aber den Libanon als Ganzes traf, tun ein übriges. Vierzig Prozent der Infrastruktur zerstört, zwei Drittel der Küste ölverseucht, über 100.000 Wohnungen zerbombt, Arbeitslosigkeit: So lautet die Schadensbilanz. Bis Brücken wieder stehen, Häuser wieder aufgebaut sind und Touristen wieder im Mittelmeer baden können, werden Jahre vergehen.

Konkurrenz zwischen dem Iran und dem "Westen"

Die krisenhafte Zuspitzung, die der Auszug schiitischer und eines christlichen Ministers aus der Regierung Siniora und der Mord an Pierre Gemayel in den letzten beiden Wochen deutlich gemacht hat, ist sowohl hausgemacht als auch den seit langem schwelenden politischen Gegensätzen der ganzen nah-mittelöstlichen Region geschuldet: Die Konflikte zwischen pro- und antisyrischen Einstellungen, die Dichotomie zwischen sunnitischem und schiitischem Machtanspruch, die Konkurrenz zwischen dem heraufziehenden Machtzentrum Iran und den komplexen Zielen des "Westens", Amerikas und Israels, wirken mit zerstörerischer Kraft auf die Stabilität des ohnehin zerbrechlichen Staates.

Das spezifisch Libanesische an der Krise des Zedernstaats hat seinen Angelpunkt in der Frage, wer die Regierung kontrolliert und wer deswegen - vielleicht - genügend Einfluß besitzt, den Kurs in Richtung USA oder Iran oder Syrien zu bestimmen. Derzeit und vielleicht noch einige Monate länger haben in der Regierung diejenigen das Sagen, die sich mangels einer besseren Definition als die "Koalition des 14. März" bezeichnen, ein Sammelsurium von sunnitischen, drusischen und einigen christlichen politischen Gruppen, die sich auf die USA oder auf Frankreich stützen. Lange wird diese Lage nicht mehr halten.

Das Attentat auf Gemayel - fast gleichgültig, wer es begangen hat - hat die geringe Halbwertzeit des libanesischen Systems klargemacht. Bei Noch-Premier Siniora und seinen Gefolgsleuten geht eine diffuse Angst um, daß die US-Regierung in ihrer verzweifelten Suche nach einer Entschärfung des Irak-Desasters einer politischen Entwicklung Raum geben könnte, die erneut zu einer gewissen Hegemonie Syriens über den Libanon führen könnte. Doch trotz aller Ängste will niemand im innerlibanesischen Machtspiel nachgeben.


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