© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 48/06 24. November 2006

Verbürgte Freiheit
von Heinz Odermann

Freiheit" erfährt der Bürger heute als ein beliebiges Wort, als ein Wort, das schön klingt, aber nicht im Gleichklang steht mit dem politischen Handeln. Als freier Mensch soll jeder Bürger sich selbst verwirklichen. Das Individuum und seine Freiheit - das ist das Thema des heutigen Liberalismus. Der Individualismus, Kern des politischen Liberalismus, wurde in den vergangenen 40 Jahren zu einer Staatsphilosophie, aus der sich der Egoismus entfaltete.

Der Liberalismus von heute, der Neo-Liberalismus, ist eine eklektizistische Ideologie, die aus verschiedenen Soziallehren des 19. und 20. Jahrhunderts zusammengezimmert wurde. Sie dient vor allem dem Kapital dazu, seine Ausbreitung unter dem Schlagwort der "Freiheit des Marktes" zu sichern. Aus dieser Ideologie ergeben sich fünf Hauptmerkmale einer liberalen Gesellschaft, wie sie sich zur Zeit in Deutschland darstellt: der Verfall der Werte, auch in der Politik; die Massenarbeitslosigkeit und das Diktat der Ökonomie; der dramatische Geburtenrückgang und die ungewisse Zukunft des deutschen Volkes; Einwanderung und Multikulturalismus; der Verlust von Nationalbewußtsein. Diese Phänomene sollen im folgenden näher beleuchtet werden.

Verfall der Werte. Das politische System in Deutschland vermittelt mit der Manipulation der Neuwahlen im vorigen Jahr ein wirklichkeitsgetreues Bild seiner Freiheitsauffassung. Ein erschöpfter Bundeskanzler verschafft sich ein Mißtrauensvotum des Parlaments mit dem erlogenen Vertrauensentzug der Fraktionen, die bisher seine Regierung stützten, der SPD und der Grünen. Der Fraktionszwang, ein (weithin) ungeschriebenes Gesetz der Parteienherrschaft im Parlament, sichert dem Kanzler bis auf wenige Stimmen die Zweidrittelmehrheit, weil auch CDU/CSU und FDP an seiner Ablösung interessiert waren. Der Bundespräsident gibt nachdenklich sein Ja-Wort, das Bundesverfassungsgericht macht einen verfassungsrechtlichen Klimmzug und stimmt ebenfalls zu. Das höchste Gericht, berufen, die Verfassung zu verteidigen, folgt dem Wunsch des Parteienkartells und weicht das Grundgesetz auf.

Ein weiteres Beispiel für den Verfall von Ehrlichkeit und Verläßlichkeit bietet die Frage des Beitritts der Türkei zur Europäischen Union. Bundeskanzler Gerhard Schröder und sein Außenminister Joseph Fischer haben die Beitrittsverhandlungen vorangetrieben, ohne jemals ihren Wählern zu erklären, inwieweit es politisch, ökonomisch und kulturell notwendig ist, den vorderasiatischen, islamisch geprägten Staat in die EU zu holen. Diese Schwäche nutzte die CDU bei den Bundestagswahlen, und die Vorsitzende Angela Merkel fischte die Stimmen der Beitrittsgegner. Nach der Wahl sagte sie nun: Als Vorsitzende der CDU sei sie gegen die Mitgliedschaft der Türkei, als Bundeskanzlerin müsse sie die Absprachen ihrer Vorgänger-Regierung erfüllen. Welchen Sinn haben Wahlen, wenn der Sieger die Politik des Verlierers fortführt?

Dringend notwendig wäre es, Volksvertreter in den Bundestag wählen zu können, die sachverständig und unabhängig arbeiten können. Gesellschaftlich relevanten Kräften muß das Recht eingeräumt werden, neben den Parteien einen Sitz im Bundestag einzunehmen. Eine solchermaßen vom Parteienkartell befreite demokratische Staatsordnung wäre zu ergänzen um die Direktwahl von Personen, Mehrheitswahlrecht und Volksabstimmungen. Die Wiedergewinnung der Werte in Politik und Gesellschaft macht einen Richtungswechsel vom Parteienstaat zur Bürgergesellschaft erforderlich.

Massenarbeitslosigkeit. Die Höhe der Arbeitslosigkeit hat eine direkte Beziehung zum Diktat der Ökonomie und ist strukturell im wesentlichen eine Folge der neuen Phase der wissenschaftlich-technischen Revolution mit ihren weitreichenden gesellschaftlichen Auswirkungen, die jene Kräfte der Ökonomie auslösen, die Zweck und Ziel der Entwicklung vorgeben. Mit dieser Entwicklung untrennbar verbunden ist die hohe Arbeitsproduktivität aufgrund automatisierter Produktionsprozesse mit weniger Fachkräften. Das ist ökonomisch in hohem Maße gewinnbringend und dient weiteren kommerziellen Interessen wie dem Aufkauf anderer Unternehmen zur Erweiterung der eigenen Marktposition. Aus diesem Grund haben große Versicherungen, Banken und Industriekonzerne angekündigt, insgesamt mehr als hunderttausend Stellen zu streichen. Erfolgreich arbeitende Betriebe werden in Niedriglohnländer verlagert, deutsche Facharbeiter und Ingenieure auf die Straße gesetzt, um die Profite zu erhöhen.

Eine entschlossene Politik könnte den ökonomischen Mißbrauch beenden, indem sie die Unternehmen verpflichtete, bei Verlagerung ihrer Betriebe ins Ausland eine Sonderabgabe an den Staat zu leisten. In einem krassen Fall wäre die Enteignung des Betriebes nach Artikel 14 Absatz 2 des Grundgesetzes (Gemeinwohl des Eigentums) denkbar.

Die Demokratie ist gefährdet, wenn private Macht beginnt, sich über den Staat zu stellen. Die Freiheit ist nur gesichert, wenn das politische und wirtschaftliche System Arbeit, Produktion und Verteilung der Güter auf eine Art sicherstellt, die eine annehmbare Lebenssituation schafft. Sinngemäß fragte der Urenkel des ersten Reichskanzlers, Ferdinand Fürst von Bismarck, in seiner Streitschrift "Setzen wir Deutschland wieder in den Sattel": Ist der Staat eine "ordnungspolitische Macht oder ein Großmarkt ökonomischer Interessen"? Das Gemeinwesen besteht nicht nur aus Industriekonzernen und Großbanken.

Der Weg aus der Ohnmacht gegenüber der Totalität der Ökonomie führt zurück zur Vernunft der sozialen Marktwirtschaft. Das bedeutet einen chirurgischen Eingriff in die heilige Kuh des "freien Marktes". Erste Schritte wären ein strenges Produkthaftungsgesetz und staatliche Maßnahmen gegen die Verlegung von Betrieben, die zur Arbeitslosigkeit im eigenen Land führt.

Geburtenrückgang. Der dramatische Geburtenrückgang ist die größte Gefahr für die Zukunft unseres Volkes. Im vorigen Jahr kamen in Deutschland weniger als 676.000 Kinder zur Welt. Das ist die niedrigste Geburtenrate seit etwa 100 Jahren. Der Sozialforscher Meinhard Miegel weist rechnerisch nach: Sollte der Geburtenrückgang so gering und die Zuwanderung nach Deutschland so hoch sein wie bisher, wäre das deutsche Volk in 100 Jahren zur Hälfte ausgetauscht gegen Völker aus dem nahen, mittleren und fernen Osten. Auch Miegel sieht als eine der Ursachen des Geburtenschwundes in Deutschland einen bestimmten Zusammenhang zwischen der sinkenden Geburtenrate und der Massenarbeitslosigkeit, die zum Normalfall zu werden droht, und der damit verbundenen sozialen Unsicherheit der Familien.

Das Elterngeld, das die Bundesregierung beschlossen hat, ist eine richtige Entscheidung auf einem notwendigen Weg. Nur mit dem Geld allein werden sich die Geburtenzahlen nicht erhöhen. Es muß ein gesellschaftliches Klima geschaffen werden, in dem Kinder erwünscht sind. Gesellschaftlich notwendig ist es, in allen Unternehmen und öffentlichen Einrichtungen Erleichterungen für Frauen und Männer zu schaffen, um sie besser zu befähigen, Familie und Beruf zu verbinden. Dazu gehören Kinderkrippen, Kindergärten, Ganztagsschulen, das bezahlte Mutterjahr mit Garantie der Wiedereinstellung usw., also staatliche Fördermaßnahmen. Das läßt sich "im freien Spiel des freien Marktes" nicht erreichen und schon gar nicht unter den gegenwärtigen Bedingungen des Marktradikalismus. Der Staat hat die Aufgabe, mit Augenmaß regulierend einzugreifen. Es geht um Maßnahmen, die zu einem veränderten gesellschaftlichen Standard führen. Der Weg aus der Krise ist die aktive Familienpolitik, die als Gesellschaftspolitik durchzusetzen ist.

Einwanderung. Die bewußt betriebene Massenein­wanderung nach Deutsch­land aus dem Orient und aus Afrika wuchs aus dem Interesse der Wirtschaft, billige Arbeitskräfte anzuwerben, und aus dem Multikulturalismus, aus dem sich schon seit langem eine Parallelgesellschaft formt. Wer auf die kulturellen Leistungen Griechenlands und Italiens, Deutschlands, Frankreichs, Spaniens, Großbritanniens, Rußlands und anderer europäischer Staaten blickt, wer Literatur und Musik, wer die Kunstwerke dieser Völker achtet und versteht, der hat eine existierende multikulturelle Gesellschaft vor Augen, die ihre Wurzeln in der Geschichte dieser Völker, in ihrem Brauchtum und ihren Sitten hat. Diese Gesellschaft muß nicht mit dem Orient erweitert werden, um dieser Region Freiheit und Demokratie nahezubringen. Auch die orientalischen Völker schöpfen ihre kulturellen Leistungen aus den Wurzeln ihrer Geschichte. Die Kulturen der Welt sind durch das Band ihrer Leistungen und ihres fruchtbaren Austausches verbunden, die durch die Besinnung auf die eigene Geschichte und Kultur ihren Wert hervorbringen, nicht durch ihre Vermischung mit anderen Kulturen infolge massenhafter Einwanderung und ihrer Vermengung mit anderen Wertauffassungen.

In Deutschland leben heute etwa sieben Millionen nicht-europäische Einwanderer. Die deutsche Hauptstadt ist nach Ankara und Istanbul die drittgrößte türkische Stadt. Deutschland ist jedoch kein Teil des Islam. Deutschland steht im Erbe und in der Tradition der europäischen Aufklärung, der Gedanken- und Meinungsfreiheit und der christlichen Werte.

Einwanderung wofür? Die Antwort auf diese Frage muß mit einem ethisch-nationalen Ziel verbunden sein. Für politisch verfolgte Menschen, die im aufnehmenden Land eine neue Heimat erhalten! Für den ökonomischen, wissenschaftlichen und kulturellen Fortschritt des aufnehmenden Landes! Am 24. September 2006 haben die Eidgenossen mit großer Mehrheit entschieden, das Schweizer Asylrecht zu verschärfen. Asylanträge von Ausländern ohne Papiere werden anders als in Deutschland nicht mehr bearbeitet. Die Bewerber um Asyl erhalten im Gegensatz zu Deutschland keine Sozialhilfe mehr, sondern nur noch, falls erford-
lich, eine Nothilfe im begrenzten Umfang. Nicht-Europäer werden nur aufgenommen, wenn sie ihre berufliche Qualifikation nachweisen und eine feste Arbeitsstelle besitzen, für die kein Schweizer und kein Europäer verfügbar ist. Die deutsche Einwanderungspraxis sollte nach dem Schweizer Muster neu definiert werden. Die Einwanderung muß vom Arbeitskräfte-Transfer und von der Aufnahme des Bevölkerungsüberschusses der Türkei und anderer nicht-europäischer Länder gelöst werden. Wir brauchen eine Verantwortungsethik gegenüber dem eigenen Volk, nicht eine Gesinnungsethik der deutsch-türkisch-arabischen Multikulturalität. Dabei bleibt Deutschland in seiner humanistischen Tradition gleichwohl offen für politisch, rassisch, ethnisch und religiös Verfolgte.

Nationalbewußtsein. Nation und Vaterland sind die Werte für den Zusammenhalt des Volkes. Leider aber krümmen sich noch immer einige deutsche Politiker, Akademiker und Journalisten, wenn sie von Nation und Vaterland hören. Die Schwäche des deutschen Nationalgefühls geht tief in die Geschichte des deutschen Mittelalters, in die Geschichte des Partikularismus zurück. Aus aktueller Sicht liegt einer der Gründe in den 45 Jahren der selektiven Umerziehung und in den 40 Jahren der staatlichen Spaltung und der menschlichen Trennung. Eine andere Ursache kann im Völkermord an den Juden gesehen werden, der an jede neue Generation in Form einer Kollektivschuld-Behauptung weitergetragen wird.

Für das Verbrechen gegen die Menschlichkeit tragen die nachgeborenen Generationen keine Schuld. Es gibt keine Kollektivschuld eines Volkes. Alle Völker, die mit Verbrechen ihrer Herrscher belastet sind, stehen jedoch in der Pflicht, die Verbrechen ihrer Staatsführungen anzuerkennen und ihren Teil zur Sühne beizutragen. Die Verantwortung vor der Geschichte festigt sich in der Erziehung und Bildung zu einem demokratischen Nationalbewußtsein, das die Achtung anderer Völker, ihrer Lebensrechte und ihrer Kultur einschließt. In unserer Geschichte gibt es zwölf furchtbare Jahre, die zu den schlimmsten der menschlichen Barbarei gehören. Diese Jahre dürfen den humanistischen Charakter des deutschen Volkes nicht verdecken. Das Bekenntnis zu unserer Verantwortung, daß sich Völkermord und Rassenhaß nicht wiederholen, macht uns frei von Selbsthaß und Selbstzerstörung.

Der Weg aus der Krise unseres Nationalbewußteins erfordert eine Besinnung auf die zweitausendjährige Geschichte unseres Volkes, auf die kulturellen, wissenschaftlichen und politischen Leistungen von Weltbedeutung. Erbe und progressive Tradition unseres Volkes sind weiterzutragen, um ein gesundes deutsches Selbstbewußtsein zu stärken und auch die deutsche Sprache im Geiste von Luther und Herder und Goethe zu verteidigen.

Zeugen des Guten sind in unserem Volk vorhanden. Wir sehen Tausende von haupt-, neben- und ehrenamtlichen politischen Mandatsträgern, Helfer des Technischen Hilfwerks, des Roten Kreuzes und anderer Organisationen, die uneigennützig ihre Arbeit leisten. Wir sehen auch gut und erfolgreich geführte Unternehmen, Arbeiter und Wissenschaftler, Landwirte und Ingenieure, Berg- und Stahlarbeiter, Handwerker, Ärzte und Krankenschwestern. Wir vertrauen diesen Menschen - wie wir jenen mißtrauen, die sich an der Arbeit anderer bereichern und uns falsche Leitbilder geben. Zu verbürgen, daß diese Menschen die Freiheit erhalten, ihren Dienst am Gemeinwesen zu tun, gehört zu den zentralen Aufgaben des Staates.

 

Prof. Dr. Heinz Odermann lehrte Geschichtswissenschaft an der Universität Potsdam.

In JF 41/06 am 6. Oktober legte der emeritierte Aachener Philosoph Klaus Hammacher eine rechtlich-ethische Doppelbestimmung des Freiheitsbegriffs vor. Heute führt Heinz Odermann aus der Perspektive des Historikers die Debatte um den Freiheitsbegriff fort, indem er anhand ausgewählter Beispiele aufzeigt, daß die individuelle Freiheit immer auch staatlich verbürgt und garantiert werden muß. (JF)

Foto: Markus Lüpertz, Entwurfsmodelle des Merkur (2006), Museum Küppersmühle Duisburg: Um zu erkennen, daß die deutsche Geschichte nicht bloß eine Abfolge von Abscheulichkeiten war, muß man genauer hinschauen


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