© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 48/06 24. November 2006

Gott wird zum "gasförmigen Wirbelthier"
Von Kant zur Molekularbiologie: Uwe Hoßfelds materialreiche Geschichte der Anthropologie seit 1775
Mario Schultz

Nicht weniger als die "Welträtsel" glaubte der Jenaer Zoologe Ernst Haeckel um 1900 gelöst zu haben. Seitdem sind Naturwissenschaftler entschieden kleinlauter geworden, aber mit dem "Genom-Projekt" kam um die Jahrtausendwende noch einmal Haeckel-Stimmung auf, die sogar schöngeistige Feuilletonredaktionen entflammte. Man hat darum in frischer Erinnerung, auf welche breite Resonanz biologische Forschung rechnen darf, wenn sie weltanschauliche Neuorientierung verspricht.

Das ist das Geheimnis ihres Publikumserfolg seit dem Aufkommen der "Aufklärung". Denn spätestens seit Mitte des 18. Jahrhunderts verlor die christliche Weltdeutung sukzessive an Überzeugungskraft. Selbst die einfache Landbevölkerung ließ sich nicht mehr durch Ausblicke auf "Höllenstrafen" disziplinieren. Und die gebildete Welt begann sich daran zu stören, daß die biblische Chronologie immer weniger zu den geologischen Berechnungen über das Alter der Erde passen wollte. Was Wunder, wenn der aufgeklärte Zeitgenosse auf die Frage nach der Herkunft des Menschen nicht mehr im Märchen von Adam und Eva nachschlug, sondern Antworten von einer neu sich formierenden Wissenschaft über den Menschen, der Anthropologie, erwartete. Immanuel Kant war 1775 der erste Universitätslehrer, der eine Vorlesung über diese neue Materie anbot.

Von diesen Anfängen bis in die unmittelbare Gegenwart verfolgt der Jenaer Wissenschaftshistoriker Uwe Hoßfeld die "Geschichte der biologischen Anthropologie in Deutschland". Ein Titel, der nicht ganz korrekt ist, weil Hoßfeld auch den einen oder anderen Seitenblick auf die internationale Entwicklung der Disziplin wirft, Frankreich, England, Italien und Rußland einbezieht. Entstanden ist so ein Werk, das oft eher an eine ungeheure Stoffmassen bewältigende annotierte Bibliographie, an einen überdimensionierten Handbuchartikel erinnert als an eine stringente Fachgeschichte oder gar an so populäre Zugänge ins Reich naturwissenschaftlichen Arkanwissens, wie sie zuletzt ein Daniel Kehlmann mit seiner "Vermessung der Welt" eröffnete.

Da Hoßfeld keinen Bestseller, sondern eine Habilitationsschrift zu produzieren hatte, müssen ästhetische Ansprüche zwar unerfüllt bleiben. Gleichwohl hätte sich der Verfasser mehr Mühe geben dürfen, um seine Materialberge begehbarer zu gestalten. Was ihm offenbar nicht zuletzt deshalb mißlingt, weil er den roten Faden, der sich aus der weltanschaulichen Orientierungsfunktion der Anthropologie seit Kants Zeiten fast zwanglos entrollt, allzu oft aus den Augen verliert und sich mit der Ausbreitung von Inhaltsangaben begnügt. So setzt er im 19. Jahrhundert mit Karl Ernst von Baer und Karl Friedrich Burdach ein, läßt die naturphilosophischen Kontexte ihres Werkes aber weitgehend unbeachtet. Diese Enthaltsamkeit macht sich noch störender in der Präsentation des Vor- und Umfeldes Ernst Haeckels, also des Vulgärmaterialismus eines Ludwig Büchner, bemerkbar. Ebensowenig vermag der Leser sich die phänomenale Wirkung Haeckels als Herold Darwins vorzustellen, der mit der Lehre Furore machte, der Mensch stamme vom Affen ab, der das "Geschöpf Gottes" endgültig zum "zweifüßigen, zweihändigen, zitzigen Thier" (Lorenz Oken) herabstufte und aus "Gott" ein "gasförmiges Wirbelthier" machte. Über den damit induzierten "Endkampf" der religiösen Weltanschauung, den Zusammenhang von "bürgerlicher Kultur und naturwissenschaftlicher Bildung" gerade in der deutschen, sich entchristlichenden Öffentlichkeit des wilhelminischen Kaiserreichs, erfährt der Leser inzwischen viel in der Monographie von Andreas Daum, aber kaum etwas bei Hoßfeld. Und doch hätte er allein am Leitseil der gesellschaftspolitischen Relevanz biologischen Wissens erklären können, warum eine rassenhygienisch-eugenische, sozialdarwinistische Radikalisierung der biologischen Anthropologie bereits vor dem Ersten Weltkrieg weit außerhalb des akademischen Elfenbeinturms wie das sozialreformerische Ei des Kolumbus gehandelt wurde.

Zusätzlich irritierend wirkt, daß Hoßfeld aus diesem zeitlichen Rahmen unvermutet herausspringt, um an dem von ihm schon in vielen Publikationen traktierten "Fallbeispiel" der Universität Jena - seit Haeckels Zeiten das "Mekka der Zoologie" - und der sich dort nach 1933 formierenden "Rassenquadriga", einem in der deutschen Hochschullandschaft singulären Ensemble "rassenkundlich" verwertbarer Disziplinen, das ideologische Mobilisierungspotential dieser Biowissenschaften zu demonstrieren. Ein Unterfangen, das aber ebenfalls eher von guten Absichten getragen scheint.

Vollends ins zusammenhanglose Referieren rutscht die Darstellung ab, als Hoßfeld sich dem unter Federführung des Jenaer Anthropologen und Zoologen Gerhard Heberer 1943 publizierten Sammelwerk "Die Evolution der Organismen" zuwendet. Insgesamt erübrigt er für dieses Opus, das 1974 in dritter Auflage erschien, fast fünfzig Seiten. Nicht von ungefähr, denn er weiß es zu rühmen als "theoretischen Meilenstein der Evolutionären Synthese", der, wenngleich unter den schwierigen Bedingungen des Zweiten Weltkrieges und denen der "nationalsozialistischen Politisierung" der Biowissenschaften geschrieben, mühelos im internationalen Vergleich bestehen könne. Was unter dieser "synthetischen Theorie" der Evolution zu verstehen ist, inwieweit sie mit der nationalsozialistischen Rassenlehre nicht kompatibel war - darüber klärt Hoßfeld indes nicht auf. Ebensowenig wird man zuvor über die Feinheiten der Haeckel-Rezeption nach 1933 ins Bild gesetzt. Warum fiel Haeckels zum "Monismus" geronnene biologische Weltdeutung 1933 durchs Rost, warum wurde der "Monistenbund" sofort verboten? Und warum gelang 1942 wieder die von Hoßfeld ausführlich beschriebene Gründung einer Haeckel-Gesellschaft? Nur soviel ist klar, daß die alten, aus dem angelsächsischen Raum stammenden Behauptungen über die "Vorläuferschaft" des Monismus für den Nationalsozialismus als Simplifikationen heute getrost vergessen werden dürfen.

Daß die biologische Anthropologie nach 1945 wegen ihrer rassenideologischen und biopolitischen Instrumentalisierung keinen leichten Stand hatte, ist nicht schwer zu begreifen. Wie sie sich trotzdem zu regenerieren vermochte, bleibt in den "Tendenzen und Strömungen", die Hoßfeld für die Bundesrepublik und die DDR berücksichtigt, wiederum im Halbschatten. Die Bedeutung des molekularbiologisch aufgerüsteten Faches, die der Autor doch gerade deswegen so hoch veranschlagt, weil es in "fast alle Bereiche menschlichen Daseins" wie "Politik, Ideologie, Religion, Philosophie und Kultur" hineinspiele, erschließt sich in diesen mitunter fast konfusen Deskriptionen seiner Nachkriegsgeschichte leider nicht einmal mehr in Umrissen.

Uwe Hoßfeld: Geschichte der biologischen Anthropologie in Deutschland. Von den Anfängen bis zur Nachkriegszeit. Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2005, 504 Seiten, gebunden, Abbildungen, 58 Euro


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