© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 48/06 24. November 2006

Die große Sphinx
Deutet uns!: Die Bilder von Neo Rauch geben unlösbare Rätsel auf
Günter Zehm

Kannitverstan" heißt die berühmte Geschichte von Johann Peter Hebel, wo ein Handwerksbursche aus Tuttlingen nach Amsterdam kommt, dort wegen der fremden Sprache von nichts was versteht und gerade wegen dieses Nichtverstehens zu höchsten Einsichten gelangt. Dem Besucher der monumentalen Neo-Rauch-Ausstellung im Wolfsburger Kunstmuseum geht es wie jenem Tuttlinger: Er versteht nichts, aber es gefällt ihm trotzdem, es gefällt ihm sogar sehr gut. Ob er darüber zu höherer Einsicht gelangt, bleibt freilich unentschieden.

Neo Rauch (46) aus Leipzig, der zur Zeit wohl bekannteste - und teuerste - Maler der internationalen Kunstszene, ist die große Sphinx unserer Tage. Er spricht, malt, in Rätseln, und niemand, nicht einmal er selbst, weiß, ob es für diese seine Rätsel überhaupt eine Lösung gibt. Doch Rauchs Kunst ist kein freier, rein ästhetischer Tanz der Formen und Farben, dafür gibt es bei ihm zu viele ganz konkrete, geschichtsbeladene und auf Diskurs angelegte Figurationen, auch zu viele leere Sprechblasen über den Figuren, die alle sehnsüchtig zu rufen scheinen: "Füllt uns aus! Deutet uns! Verschafft uns Sinn!"

Manche Betrachter der Gemälde sprechen von Surrealismus bzw. "Postsurrealismus", "Hypersurrealismus" und dergleichen. Doch an Neo Rauch ist nichts Surrealistisches. Er will die Wirklichkeit weder übersteigen noch sie blamieren, ironisieren oder bedeutungsvoll "enthüllen". Alle Figuren, Gegenstände, Landschaften bei ihm wirken ungemein realitätsnah, füllen genau den Platz aus, der ihnen vom Künstler zugewiesen ist, verströmen Biederkeit und Banalität. Alles sieht aus wie bestellt und nicht abgeholt.

Aber gerade durch ihre farbenfrohe und figurenreiche Banalität, durch ihre "Comic-Gestalt" (Andreas Höll), gewinnen Rauchs Szenen Bedeutung und Dämonie. Man fühlt sich gut aufgehoben in diesem Garten der Lüste und Unlüste, doch man fühlt sich nicht wohl darin. Man sucht nach dem Ausgang. Man will "dahinterkommen". Indes, es gibt offenbar gar kein Dahinter. Wir müssen uns damit abfinden, daß die Welt so ist, wie sie ist, und daß kein Rätsel seiner Lösung harrt.

Der originale Herr Kannitverstan bei Hebel ist bekanntlich ein Mißverständnis, eine fremde Vokabel, deren Bedeutung man lernen kann (um dadurch herb enttäuscht zu werden). Die Kunst des Neo Rauch bietet mehr als fremde Vokabeln, vor denen sich allerlei denken läßt. Sie ist die Vokabel, die man nicht lernen kann, und als solche Metapher der Welt.

Die Ausstellung ist bis zum 11. März 2007 im Kunstmuseum Wolfsburg, Hollerplatz 1, zu sehen. Tel.: 0 53 61 / 26 69-0

Foto: Neo Rauch, "Abstraktion" (Öl auf Leinwand, 2005): Es gibt kein Dahinter, die Welt ist so, wie sie ist


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