© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 48/06 24. November 2006

Ein Hauch von Banlieu-Aufruhr
Berlin: Die Auseinandersetzungen zwischen der Polizei und ausländischen Jugendlichen häufen sich / Aggressive Stimmung
Markus Schleusener

Fast war schon in Vergessenheit geraten, daß sich der Begriff "No-go-Area" zunächst nicht auf angebliche rechte Gewalt bezog. Vielmehr beschrieben so seit einigen Jahren Berliner Polizisten jene Stadtteile, in die sie sich nicht mehr oder nur noch in großer Zahl und im Kampfanzug trauen - Gegenden wie das Rollbergviertel in Berlin-Neukölln.

Jetzt hat der Begriff seine ursprüngliche Bedeutung wieder zurück. In Berlin-Kreuzberg kam es in der vergangenen Woche zu einem gewalttätigen Aufeinandertreffen von Polizisten mit Jugendlichen ausländischer Herkunft. Der Anlaß: Zwei zwölfjährige Jungs wollten in der Wrangelstraße einen Fünfzehnjährigen bestehlen, ihm seinen MP3-Spieler "abziehen".

Plötzlich sind die Polizisten von Anwohnern umringt, darunter arabisch- und türkischstämmige Jugendliche. Einer tritt gegen einen Polizeiwagen, ein anderer murmelt: "Scheißbullen". Die Situation droht zu eskalieren, die Beamten fordern Verstärkung an.

Täter werden in Handschellen abgeführt

Der Satz: "Geh dahin, wo du herkommst, du hast in Deutschland nichts zu suchen", den ein Polizist gesagt haben soll, ist wohl der Grund für die aggressive Stimmung. Für die türkischen Anwohner sind die Polizisten allesamt "Scheiß-Ostbullen". Die vermeintlichen Täter werden schließlich in Handschellen abgeführt. Zwei Polizisten werden bei dem Gerangel verletzt, der Kleinkriminelle Mehmet S. wird in einen Polizeiwagen verbracht und dort angeblich traktiert, er stellt Anzeige gegen die Beamten.

Von einem Moment auf den nächsten war die Aufmerksamkeit der Medien wieder da: Straßenkampf im Wrangelkiez. Endlich wieder Schlagzeilen über von Ausländern dominierte Stadtteile, über Verarmung, über Probleme mit der Integration. Auf einmal weht der Wind aus den Pariser Vororten durch die Berliner Innenstadt.

Tag drei nach der angeblichen Massenschlägerei, nach der "Eskalation im Kiez" (Spiegel-Online): Alles wirkt ganz normal in der Wrangelstraße. Nur daß einem alle paar Meter Journalisten über den Weg laufen. Sie sind vom Spiegel, von der B.Z., von der Berliner Zeitung. Und sie alle suchen die Krawallkids. Gegenseitig tauschen sie sich aus: Der Ladenbesitzer da und da liefert gute Antworten, den Kneipenwirt soundso brauchst du nicht fragen, der hat Angst, zitiert zu werden.

Die Einwohner rund um die Wrangelstraße sind mehrheitlich Ausländer. Ein Drittel bis die Hälfte der Leute hier sind noch Deutsche. Darunter nicht nur solche, die nicht mehr die Kraft haben wegzuziehen. Vielen jedoch geht es genauso: Vor einer Kaiser-Supermarkt Filiale steht eine Gruppe von sieben, acht älteren Männern. Sie trinken Bier, jetzt schon. Ihre Einkommensquelle heißt wahrscheinlich Hartz IV.

Das Kippen der Bevölkerungsmehrheit ist ein schleichender Vorgang. Zu sehen an der Struktur der Ladengeschäfte: Erst kamen der türkische Gemüsehändler, dann die Telefonläden für internationale Ferngespräche. Mittlerweile wirbt selbst die Apotheke mit arabischen Schriftzeichen.

Die Zukunft gehört den Jungen, und die sind fast ausschließlich Araber oder Türken. Am Vormittag zieht eine Handvoll schulpflichtiger Jungs durch die Straße. In der Gruppe fühlen sie sich stark. "Verpiß dich, du Arschloch", ist die netteste Begrüßung, die sie für jemanden übrig haben, der sie anspricht, selbst wenn er es freundlich tut. Semir (15) ist einer von ihnen und steht dann doch Rede und Antwort, weil er "in die Zeitung will". Er stellt klar, daß er und seine Freunde keine Araber sind: "Wir sind Kurden, Mann. Klar?"

Einer aus Semirs Gruppe, der seinen Namen nicht sagen mag, hat den Vorfall am Dienstagabend miterlebt. "Da kamen immer mehr Bullen, um ein paar von uns festzunehmen", sagt er. Sie hätten sich nur gewehrt, führt er weiter aus. "Am nächsten Tag haben wir alle demonstriert - gegen die ganzen Bullen bei uns im Kiez."

"Es waren niemals hundert beteiligte Personen, so wie es in allen Zeitungen steht", sagt eine Anwohnerin zu der Auseinandersetzung mit der Polizei. Sie hat das Ganze beobachtet, ohne der Angelegenheit größere Beachtung zu schenken. Ärger mit der Polizei - das kommt schon mal vor, sagt sie.

Doch diesmal ist es plötzlich ein Thema für die Presse. Die Zeitungen greifen alles auf, was sich an Horrormeldungen aus Berlin unterbringen läßt. Auf einmal scheint die ganze Stadt ein Moloch der Gewalt zu sein. In Tempelhof sollen am darauffolgenden Tag sechzig arabisch- und türkischstämmige Jugendliche einen einzigen anderen Schüler auf dem Pausenhof einer Schule angegriffen haben. Die Polizei kam, um dem Opfer zu helfen, aber die Täter waren bereits geflohen. In Tiergarten hat ebenfalls am Mittwoch ein Türke ein deutsches Kind angefahren. Es kam zum Streit zwischen Türken und Deutschen, der so eskalierte, daß die Sanitäter nicht zum verletzten Kind durchkamen. "Eine aufgebrachte Menge ausländischer Anwohner hinderte sie daran", sagte ein Polizeisprecher.

Quer zur der Wrangelstraße verläuft die Skalitzer Straße. Hier ist die Eberhard-Klein-Oberschule. Sie ist stadtbekannt, weil ihr Ausländeranteil seit fast zwei Jahren hundert Prozent beträgt. Der Direktor rät deutschen Eltern, die ihr Kind dort anmelden wollen, sich ein anderes Lehrinstitut auszusuchen.

An dieser Schule hat es am Mittwoch vergangener Woche einen brutalen Zwischenfall gegeben. Acht Maskierte stürmten einen Klassenraum und stachen mit Messern auf einen türkischen Schüler ein. Der Junge wurde vermutlich das Opfer von Rivalitäten zweier Banden. Er mußte ins Krankenhaus, ein verletzter Lehrer ebenso.

Im Wrangelkiez sind sich die Jugendlichen einig: Rache muß sein. Die Araberbande, die die Türken für den Überfall verantwortlich machen, werden sie zur Rechenschaft ziehen. Einer der Wortführer sagt: "Die zu kriegen, ist jetzt unsere Sache, nicht mehr die der Polizei." Deutsche Polizisten stehen eben nicht hoch im Kurs in der Wrangelstraße.


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