© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 48/06 24. November 2006

Das falsche Signal
Bleiberecht: Im Namen des unbekannten Muster-Einwanderers wird der Rechtsstaat weiter verbogen
Kurt Zach

Ja, es soll ihn tatsächlich geben: den perfekt integrierten, rundum loyalen, steuerzahlenden, arbeits-, leistungs- und anpassungswilligen Einwanderer, der dummerweise bloß keinen dauerhaften Aufenthaltstitel hat und deshalb zu unser aller Schaden demnächst abgeschoben werden soll. Wie weit verbreitet dieser vielbeschworene Vorzeige-Einwanderer unter den offiziell rund zweihunderttausend Geduldeten tatsächlich ist, weiß keiner; aber er ist zum Maßstab des Regierungs- und Verwaltungshandelns geworden. Mit ihm als unsichtbarer fünfter Kolonne der Einwanderungslobby am Verhandlungstisch haben Koalition und Innenministerkonferenz einen Kompromiß zur Reform des Bleiberechts zusammengebastelt, der nichts löst, aber die Rechtsordnung weiter auflöst.

Auf den ersten Blick klingt es ja vernünftig: Wer mit seiner Familie sechs, als Alleinstehender acht Jahre hier ist, Deutsch kann und Arbeit hat, soll statt endlos verlängerter Duldungen eine sofortige Aufenthaltserlaubnis erhalten. Der Haken: Auch bei diesen wenigen Musterfällen - die Rede ist von maximal zehn- bis zwanzigtausend Berechtigten - wird mit dem Aufenthaltstitel der Versuch belohnt, sich unter Umgehung geltenden Rechts individuelle Vorteile zu verschaffen. Und das unterminiert den Rechtsstaat, selbst wenn - was noch zu beweisen wäre - die Volkswirtschaft davon sogar profitieren oder jedenfalls keinen Schaden nehmen sollte.

Erst recht gilt das für die geschätzten 180.000 Geduldeten, die weder Arbeit noch Arbeitsplatzzusage besitzen. Der Innenminister-Kompromiß gibt ihnen bis 30. September 2007 Zeit, eines von beiden vorzuweisen; dann winkt, Deutschkenntnisse vorausgesetzt, der Aufenthaltstitel. Damit ist nicht etwa "Rechtssicherheit" gewonnen, wie Unions-Fraktionsvize Wolfgang Bosbach großspurig verkündet hat, sondern lediglich Zeit verloren. Denn die Jobchancen geduldeter Ausländer sind keineswegs rosig, auch wenn Holger Bonin vom SPD-nahen Bonner Institut zur Zukunft der Arbeit spekuliert, die Wirtschaft warte geradezu auf unqualifizierte Einwanderer für Niedriglohn-Jobs, die Deutsche nicht machen wollten. Das arbeitgebernahe Kölner Institut der deutschen Wirtschaft (IW) ist da skeptischer: Die Jobsuche sei für Ausländer noch weitaus schwieriger als für Deutsche, nicht umsonst sei ihre Arbeitslosenquote mit 22 Prozent mehr als doppelt so hoch. Jede Bleiberechtsregelung wird also tendenziell eher das Heer der Transferempfänger als das Häuflein der Sozialbeitragszahler vergrößern.

Man merkt die Absicht hinter der ursprünglich von SPD-Arbeitsminister Franz Müntefering und CDU-Innenminister Wolfgang Schäuble ausgehandelten Bleiberechtslösung, wonach jeder Bewerber zunächst einen auf zwei Jahre befristeten Aufenthaltstitel bekommen sollte, um anschließend Arbeit suchen zu können. Schleswig-Holsteins Innenminister Ralf Stegner (SPD) lieferte umgehend eine radikale Interpretation der schwammigen Formulierung: Es reiche ja, wenn einer sich nur redlich um Arbeit bemühe.

Dahinter vermutete der bayerische Innenminister Günther Beckstein (CSU) zu Recht eine Einladung zur "zigtausendfachen Zuwanderung in die Sozialsysteme" und zum weiteren Durchmogeln mit rechtlich deutlich verbesserter Ausgangsbasis.

Verhindert haben die Unionsminister auf der von Beckstein als Gastgeber präsidierten Konferenz diese Einladung allerdings nicht. Sie haben lediglich erreicht, daß die Tür erstmal etwas weniger weit aufgemacht wird. Denn Aufenthalt schafft Fakten, das wissen die Einwanderungslobbyisten selbst am besten.

Maria Böhmer von der CDU hat das in ihrer Eigenschaft als Integrationsbeauftragte der Bundesregierung ungewollt auf den Punkt gebracht: "Mit der Regelung der Innenminister verbindet sich eine Anerkennung von Integrationsbemühungen, und zugleich wird ein Zeichen an alle anderen gesetzt, wenn ihr hierbleiben wollt, dann habt ihr auch die Chance, eine Arbeitserlaubnis zu bekommen." Solche "Zeichen" kennt man aus Spanien - dort hat bislang noch jede Massenlegalisierung von Einwanderern ohne Aufenthaltsberechtigung den Migrationsdruck weiter verschärft und den Schleuserbanden Hochkonjunktur beschert.

Der Innenminister-Kompromiß verschafft dabei nicht nur den Geduldeten mehr Zeit, um ihre Anwesenheit zu verfestigen, sondern auch der Einwanderungslobby, um für eine möglichst pauschale Bleiberechtsregelung zu werben. Was die Innenminister beschlossen hätten, sei ja nur eine "erste Stufe", verkündet der SPD-Innenpolitiker Dieter Wiefelspütz. Stimmt: Die endgültige Regelung soll durch ein schwarz-rotes Gesetz erfolgen, das bis Sommer 2007 auf den Weg gebracht worden sein soll.

Inmitten der verdächtig stimmenden allgemeinen Zufriedenheit mit dem Formelkompromiß der Innenminister nutzen daher die Einwanderungsbefürworter schon jetzt die gewonnene Zeit, um sich mit weitreichenden Forderungen in Stellung zu bringen: Berlins Innensenator Ehrhart Körting (SPD) wünscht sich gleichrangigen Zugang zum Arbeitsmarkt für alle Ausländer schon nach vier Jahren, das eingespielte Duo aus dem grünen Fraktionsgeschäftsführer Volker Beck und der Bundesbetroffenheitsbeauftragten Claudia Roth kritisiert die Regelung als "inhuman", und die PDS-Scharfmacherin Ulla Jelpke, die es schon für eine unmenschliche Zumutung hält, den Lebensunterhalt selbst verdienen zu müssen, sorgt für radikalen Druck vom linken Rand.

Unter diesen Voraussetzungen wird das geplante Bleiberechtsgesetz der Großen Koalition fraglos in Richtung pauschaler Federstrich gehen. Schließlich ist die Einwanderungslobby besser organisiert und vernetzt als das ohnehin kleine Häuflein der Skeptiker, denen es weniger um das Wohl des Landes als um die bevorstehenden wütenden Proteste aus den Kommunen zu tun ist, die wie üblich die Zeche zu bezahlen hätten.

Die einzig konsequente, weil einzig rechtsstaatliche Lösung haben die Unions-Innenminister daher gar nicht erst ins Spiel gebracht. Wenn so viele Menschen nicht gehen, obwohl sie dazu verpflichtet wären, muß die Lösung offenkundig nicht am Aufenthaltsstatus, sondern an den viel zu weitherzig ausgelegten Abschiebungshindernissen ansetzen. Indem sie sich darauf eingelassen haben, den Mißstand der Langzeit-Duldungen nicht als Frage von Recht und Ordnung, sondern als humanitäres und Arbeitsmarktproblem zu behandeln, haben die Unions-Innenminister schon vorauseilend vor der Einwanderungslobby kapituliert.


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