© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 47/06 17. November 2006

Wenig gefragte Herrschaftssicherer
Ein Rückblick auf die Politologie in Deutschland, als sie noch keine Demokratiewissenschaft war
Manfred Dietze

Die "Historie" nennt Golo Mann in seinem Wallenstein-Epos beiläufig eine "Halbwissenschaft". Wo hätte er nach diesem Maßstab da wohl die bis heute als "Schwatzfach" verschriene "Politikwissenschaft" plaziert? Die Geschichte des Faches liefert jedenfalls reichlich Anhaltspunkte dafür, den Blick ganz ans untere Ende von Golo Manns Skala zu werfen.

Der Bochumer Politologe Wilhelm Bleek legte 2001 eine solche Disziplingeschichte vor. Sie reicht von den Anfängen als "Policeywissenschaft" bis zu der nach 1945 als Instrument der Umerziehung etablierten "Demokratiewissenschaft" und den Hochkonjunkturzeiten des auf "Gesellschaftsveränderung" abonnierten Faches nach 1968, dabei das Treiben der DDR-Politologen nicht vergessend. Aus Bleeks Kompendium ist zu lernen, daß es um die "Wissenschaftlichkeit" der Politologie im Sinne mathematisch-naturwissenschaftlicher Wahrheitskriterien nie gut bestellt war. Vielmehr waren Politikwissenschaftler stets selbst ein Teil der politischen Wirklichkeit, die sie hätten analysieren sollen.

Das ist bei Gideon Botsch, der sich in seiner Berliner Dissertation einem recht kurzen Abschnitt der Fachgeschichte widmet, den Jahren der Politologie als "Auslandswissenschaft" zwischen 1940 und 1945, nicht anders. Denn Botsch engagiert sich seit langem politisch, "gegen Rechts" natürlich, wie jüngste Einlassungen von ihm in den Blättern für deutsche und internationale Politik (9/2006) einmal mehr belegen. Schon seine Diplomarbeit galt den Europakonzepten des "frühen Rechtsextremismus in der Bundesrepublik Deutschland". Angesichts einer solchen Konditionierung läßt seine Untersuchung der NS-Episode der deutschen Fachgeschichte kaum "Objektivität" erwarten. Zumal Botsch bereits in der Widmung (für seine "aus 'rassenpolitischen Gründen'" nach 1933 am Studium gehinderten Großeltern) Bekenntniseifer nicht scheut und die Arbeit bei dem für seine geschichtspolitische Maximalverwertung des "Widerstands gegen Hitler" einschlägig ausgewiesenen Peter Steinbach entstand, der ihr auch ein mit der deutschen Sprache schwer ringendes Vorwort vorausschickt.

All diesen Erkenntnishindernissen zum Trotz bietet Botsch eine passable Leistung. Dies gilt zumindest für den größeren Teil der Untersuchung, die, sich auf reichlich vorhandene Archivalien stützend, der institutionellen Etablierung der Politik- als "Auslandswissenschaft" an der Berliner Universität gewidmet ist. Die enge personelle Verzahnung der 1940 etablierten "Auslandswissenschaftlichen Fakultät" mit dem Sicherheitsdienst der SS (SD), verkörpert in der Person des Dekans Franz Alfred Six, dem "Gegnerforscher" des SD, führt Botsch zu der für ihn zentralen Frage nach den "verbrecherischen Dimensionen" des akademischen "Einsatzes" für die NS-Herrschaftsausübung. Nicht ohne Bedauern konstatiert er, daß es auch ihm nicht möglich sei, das Ergebnis des Nürnberger Einsatzgruppen-Prozesses zu revidieren, dem zufolge Six "eine persönliche Beteiligung an Morden nicht nachgewiesen" werden könne. Das gelte auch für Auslandswissenschaftler wie den Südosteuropa-Historiker Fritz Valjavec, der 1941 in Czernowitz ein Einsatzkommando "beraten" habe, und für Six' Ukraine-Referenten Hans Joachim Beyer. So gelangt Botsch für den ganzen, vergangenheitspolitisch potentiell stets skandalträchtigen Komplex des wissenschaftlichen "Osteinsatzes" zu dem nur Weltfremde überraschenden Resultat, daß es zum Aufbau der Besatzungsverwaltung und des "sicherheitspolizeilichen Terrorapparats" im Osten keines "auslandswissenschaftlichen Expertenwissens" bedurfte. So seien die ohnehin nicht sehr zahlreich "eingesetzten" Akademiker schon ab August 1941 wieder an ihre Institute und Universitäten zurückgekehrt.

Nicht nur in der Berliner Fakultät habe sich danach deren Tätigkeit wieder in der Erforschung dessen erschöpft, was man heute "System der internationalen Beziehungen" nennen würde, angereichert um "länderkundliche" Informationen oder Analysen der politisch-ökonomischer Strukturen jenes "Auslandes", mit dem sich das Großdeutsche Reich im Krieg befand. Was davon tatsächlich "herrschaftssichernd" in politische Entscheidungsfindung einging, bleibt bei Botsch unklar.

So beriet man etwa im "Europa-Seminar" des mit der Berliner Fakultät verklammerten Deutschen Auslandswissenschaftlichen Instituts seit 1944, also zu einem schon recht ungünstigen Zeitpunkt, so intensiv wie glasperlenspielerisch darüber, wie die NS-Nachkriegsordnung des Kontinents auszusehen habe. Den Geographen Albrecht Haushofer, als Mitverschwörer des 20. Juli eher an alternativen Ordnungen interessiert, erreichte die letzte Einladung zu einer Sitzung des Arbeitskreises am 31. Juli 1944. Da war Haushofer schon in Bayern untergetaucht und galt als "nicht erreichbar".

Im "Normalbetrieb" der auch geheimdienstliche Informationsbeschaffung nicht verschmähenden "Politikberatung" unterschied sich der Forscheralltag der Six-Truppe nicht von dem der Kollegen in Moskau, London und Washington, wenn auch Botsch nur mit rührender Verwunderung feststellt, "daß auch in den USA eine Verwissenschaftlichung des Nachrichtendienstes stattfindet", die zahlreiche Politik- und Sozialwissenschaftler beschäftigte. "In vergleichender Perspektive" sei dieses Phänomen noch nicht erforscht. Das ist zutreffend, nur übergeht Botsch, daß deutscherseits keine komparatistischen Versuche gemacht wurden, um "relativierenden" Konsequenzen zu entgehen.

In einem üppigen Anhang stellt Botsch das gesamte Fächerensemble der Auslandswissenschaftlichen Fakultät vor, präsentiert den wissenschaftlichen Lebenslauf selbst des (zumindest damals) abseitigsten Experten für die "Volks- und Landeskunde des Irans". Leider konfrontiert er den Leser so noch einmal in kompakter Form mit der Hauptschwäche seiner Arbeit: Aus der Masse bio-bibliographischer Daten formt Botsch kein inhaltliches Profil dessen, was an der Berliner Fakultät etwa über die politische Systeme der USA oder der Sowjetunion zutage gefördert wurde. Ohne Orientierung an solchen Inhalten läßt sich die von ihm aufgeworfene Frage nach den "Kontinuitäten" der nationalsozialisitschen Politikwissenschaften aber schwerlich sinnvoll beantworten.

Gideon Botsch: Politische Wissenschaft im Zweiten Weltkrieg. Ferdinand Schöningh, Paderborn 2006, 362 Seiten, gebunden, Abbildungen, 49,90 Euro.

Foto: Besprechung des Präsidenten der Auslandswissenschaftlichen Fakultät mit Abteilungsleitern, Karl v. Loesch (sitzend), Michael Achmeti, Albrecht Haushofer, Franz Alfred Six, nicht bekannt: Terrorapparat hat keines auslandswissenschaftlichen Expertenwissens bedurft


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