© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 47/06 17. November 2006

Das Pathos der Erneuerung
Das eigentliche Tabu der spanischen Geschichtsforschung: Vor 75 Jahren wurde José Antonio Primo de Rivera hingerichtet
Karlheinz Weissmann

Vor fünfundsiebzig Jahren, am 20. November 1936, wurde José Antonio Primo de Rivera erschossen. Man führte ihn in den Hof des Gefängnisses von Alicante, um dort das Urteil des "Volksgerichts" zu vollstrecken, das ihn nach einem nur zwei Tage dauernden Prozeß des Hochverrats für schuldig befunden hatte. Von dem vorsitzenden Richter, einem früheren Freund, verabschiedete er sich höflich mit den Worten: "Ich bedauere den üblen Augenblick, in dem ich Dich verlasse." Seine letzte Bitte war, man möge den Boden nach der Hinrichtung säubern, damit sein mit ihm verhafteter Bruder nicht gezwungen werde, durch sein Blut zu gehen.

Es waren das Gesten, ebenso wie die, nicht für sich selbst um Gnade zu bitten, aber für den Bruder und dessen Frau, die José Antonio den Ruf der Ritterlichkeit auch bei seinen Gegnern verschafften. Ein Ruf, der niemals ganz von seiner Herkunft aus einer vornehmen spanischen Familie getrennt werden konnte, aber doch in erster Linie mit seiner Persönlichkeit zu tun hatte.

Seine Leidenschaft galt der Literatur und Philosophie

José Antonio Primo de Rivera y Saenz de Heredia wurde am 12. Dezember 1902 geboren. Sein Vater Miguel gehörte zu den wichtigsten spanischen Militärs und hatte angesichts der Krise, in die die Monarchie Anfang der zwanziger Jahre geriet, mit Zustimmung des Königs eine Diktatur errichtet. 1930 sah er sich allerdings zum Rückzug gezwungen, Alfons XIII. und seine Gemahlin mußten Spanien verlassen. Zu den jungen Edelleuten, die die Königin begleiteten, gehörte auch José Antonio. Sein Weg, so schien es, folgte dem des Vaters. Er erbte nach dessen Tod den Titel eines Marqués de Estella, schloß sich der monarchistischen Partei an und verteidigte die Regentschaft seines Vaters erbittert gegen jede Kritik.

Allerdings war schon früher deutlich geworden, daß er dem Lager der Tradition nicht ohne Vorbehalt gegenüber stand. Er hatte sich dem Wunsch der Familie verweigert, Berufsoffizier zu werden und absolvierte statt dessen ein Jura-Studium, wenn auch halbherzig, weil seine eigentliche Leidenschaft der Literatur und der Philosophie galt.

An der Universität Madrid faszinierten ihn vor allem die Kollegs, die José Ortega y Gasset hielt. Ortega y Gasset gehörte zur "Generation von '98", jenen Intellektuellen, die nach der Niederlage im Spanisch-Amerikanischen Krieg 1898 und dem Kollaps des Kolonialreichs die Forderung erhoben hatten, daß Spanien eines grundsätzlichen Wandels bedürfe. Die politische Stoßrichtung blieb dabei unklar, aber das Pathos der Erneuerung mußte einen lebendigen Geist wie José Antonio anziehen.

Das erklärt auch seine rasche Abwendung von den Monarchisten und die Annäherung an eine Bewegung, die noch viel Unfertiges an sich hatte, die Anfang der dreißiger Jahre gegründeten Juntas de Ofensiva Nacional-Sindicalista (JONS) - die "Nationalsyndikalistischen Angriffsverbände". Die JONS ähnelten in vielem den "protofaschistischen" Gruppierungen, wie sie schon vor dem Ersten Weltkrieg in Frankreich und danach in Italien entstanden waren. Gegründet von dissidenten Sozialisten, versuchten sie, bestimmte "linke" Elemente (Vergesellschaftung von Produktionsmitteln, Bodenreform) mit "rechten" (korporative Verfassung, Nationalismus) zu vereinigen. Aber die politische Dynamik, die Spanien zu Beginn der dreißiger Jahre kennzeichnete, erlaubte keine Entwicklung eines solchen - "nonkonformistischen" - Programms. Bald schien es aussichtsreicher, sich offen am faschistischen Modell zu orientieren.

Im Frühjahr 1933 wurde die erste und einzige Ausgabe der Zeitschrift El Fascio veröffentlicht, zu deren Redaktion neben José Antonio einige Nationalsyndikalisten gehörten. Die Regierung verbot die Publikation sofort, aber das war kaum der ausschlaggebende Grund dafür, daß man von der Gründung einer gleichnamigen Partei absah und statt dessen am 29. Oktober 1933 die Falange Española ins Leben rief. Die Falangisten begeisterten sich für das Italien Mussolinis und das Deutschland Hitlers, und nach der Vereinigung mit der JONS im folgenden Jahr wurde die Partei in bezug auf die Organisation (Führerprinzip, Militarisierung) und den Stil (Uniformierung, Aufmarsch) ganz diesen Vorbildern angepaßt.

Allerdings waren die ideologischen Abweichungen deutlich: José Antonio gestand Italien nur eine "vorläufige Lösung" des Problems der Staats- und Wirtschaftsorganisation zu, er strebte eine Rückkehr zu überschaubaren Sozialformen an und kritisierte die Bürokratisierung, trotz seiner Bejahung des totalen Staates lehnte er die Alleinherrschaft ab, die Größe Spaniens gehörte zu den Voraussetzungen seiner ganzen Programmatik, aber die "Hispanität" des alten Reiches war kein Imperialismus im modernen Sinn, sondern in der Überlieferung und Religion begründet; genauso anachronistisch wie diese Reichsidee wirkte José Antonios Verständnis von "Rasse" als Lebensmacht und Ausdruck einer spezifischen Vitalität bei gleichzeitiger Zurückweisung naturalistischer Politikauffassungen.

Schon die Zeitgenossen hatten Zweifel daran, daß José Antonio sich über die notwendige Radikalität der politischen Maßnahmen klar war, die ergriffen werden mußten, um eine so weitreichende Veränderung Spaniens zu bewirken, wie sie das Programm der Falange vorsah. In der kurzen Zeit ihres Bestehens - das Verbot erging bereits am 14. März 1936, nach dem Sieg der "Volksfront" bei den Parlamentswahlen - konnte sie kaum Einfluß gewinnen. Organisatorisch und finanziell war sie von den Parteien der "alten Rechten" abhängig, ihr Stimmenanteil blieb erbärmlich, zu keinem Zeitpunkt gelang es ihr, mehr als 20.000 Mitglieder zu sammeln.

Von Armee und Klerus versprach er sich wenig

Nach dem Verbot der Falange folgte die Inhaftierung José Antonios und der meisten anderen Führer. Bis zum Beginn der Militärerhebung Francos im Juni 1936 fiel mehr als die Hälfte dieser Männer den Säuberungsmaßnahmen der Republik zum Opfer. José Antonio selbst stand dem Plan eines Putsches skeptisch gegenüber. Aus der Haft äußerte er in einem Brief: "Eins der schrecklichsten Dinge würde die nationalrepublikanische Diktatur sein, ein anderer falscher Versuch, den ich befürchte, ist die ... Herrschaft eines falschen konservativen Faschismus, ohne revolutionären Mut und junges Blut."

Die Reserve erklärte sich nicht nur aus dem Sendungsbewußtsein José Antonios, sondern auch aus der Sorge, daß der "nationalsyndikalistische" Weg ungangbar werden könnte, wenn man sich den Kräften der Armee und des Klerus unterwarf, die im Grunde nur die Verhältnisse wiederherstellen wollten, die vor 1930 geherrscht hatten. José Antonios Idee von einem falangistischen Staatsstreich mit Hilfe der reformwilligen Kräfte des Offizierskorps war aber unter den gegebenen Umständen nicht zu verwirklichen.

Trotz seines Einspruchs schlossen sich viele Falangisten nach dem Beginn der Revolte den Truppen Francos an. Vom Gefängnis aus konnte José Antonio die Entwicklung nicht mehr kontrollieren. Sein Tod führte dann dazu, daß die führerlose Bewegung ganz in das Lager der "Nationalen" übertrat und Franco den Zusammenschluß mit allen anderen Parteien der Rechten - den Karlisten, den katholischen und Liberalkonservativen - erzwang.

Dieser Vorgang hatte in erster Linie zwei Konsequenzen. Zum einen wurde der "authentische" Falangismus immer weiter zurückgedrängt. Bezeichnend war schon die Tatsache, daß Manuel Hedilla, José Antonios Nachfolger an der Spitze der Falange, wegen seiner Weigerung, der Vereinigung zuzustimmen, seines Amtes enthoben und zum Tode verurteilt wurde, bevor Franco ihn zur Verbannung begnadigte. Hedilla kam vom Arbeiterflügel der Falange und opponierte auch später dem frankistischen Kurs.

Ein anderer Fall war der Dionisio Ridurejos, des "Dichters der Falange", von dem die Hymne "Cara al Sol" ("Das Gesicht zur Sonne") stammte. Er wurde wegen seiner Opposition gegen Franco gleichfalls zum Tode verurteilt und dann begnadigt. Wie viele renitente Falangisten trat er als Freiwilliger in die Blaue Division ein, die im Rußlandfeldzug auf deutscher Seite kämpfte. Nach dem Krieg lebte er in Frankreich im Exil, kehrte 1964 illegal nach Spanien zurück und wurde sofort wieder inhaftiert.

Franco inszenierte einen Märtyrerkult um ihn

Die zweite Konsequenz, von der hier gesprochen werden muß, ist der Kult, den Franco um José Antonio als "Märtyrer des Kreuzzuges" inszenieren ließ. Sein Grab bildete das Zentrum des großen Totenmals im Valle de los Caidos, das für die gefallenen "Nationalen" errichtet wurde. Die Schriften José Antonios säuberte man von allen Hinweisen auf abweichende Überzeugungen, und in der Ära Franco erschien er als eine Art Vorläufer des Caudillo, dessen Auffassungen von seinen allerdings denkbar weit entfernt waren.

Diese Art von Verzeichnung spiegelt in gewissem Sinn die Diffamierung, die man von linker, vor allem marxistischer Seite bis heute betreibt. Der spanische Historiker Arnaud Imatz, der die letzte große Arbeit über José Antonio vorgelegt hat, spricht davon, daß seine Person "das wirkliche Tabu" der Geschichtswissenschaft seines Landes sei. Die Werkausgabe wurde abgebrochen, wissenschaftliche Kongresse, die sich mit José Antonio befassen, werden abgesagt, das staatliche Fernsehen weigert sich, irgendeine Sendung auszustrahlen, in der er eine Rolle spielen könnte. Im April 2005 wurde sein letztes öffentliches Denkmal zerstört, nachdem die sozialistische Regierung erklärt hatte, es passe nicht mehr in die neue Zeit.

José Antonio gehörte zu den ersten Toten des Bürgerkriegs. Man nimmt an, daß die Auseinandersetzung neben 160.000 Gefallenen auch 140.000 Terroropfer forderte. Davon sollen etwa 60.000 der republikanischen Seite, 80.000 der nationalen zuzurechnen sein. Die offizielle Erinnerungspolitik möchte natürlich nur noch die eine Seite des Massakers betrachten, aber auch in diesem Fall gab es einen "kausalen Nexus" (Ernst Nolte), ein Aktions-Reaktions-Schema, wie es für den ganzen "Europäischen Bürgerkrieg" kennzeichnend war und dem José Antonio anheimfiel, nicht zufällig, sondern auf Befehl Moskaus exekutiert: als symbolischer Feind von Rang.

Literaturhinweis: Nation, Staat und Politik bei José Antonio Primoa de Rivera. Faschismus in Spanien? Verlag Peter Lang, Frankfurt/Main 1995, brosch., 206 Seiten, 38 Euro

Foto: Primo de Rivera (M.) wird von der Guardia Civil verhört (1934): Insgesamt 140.000 Terroropfer


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