© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 46/06 10. November 2006

Kolumne
Ähnliches und Unähnliches
Klaus Motschmann

Der türkische Botschafter in Deutschland hat vor kurzem anläßlich eines Besuches des türkischen Gemeindezentrums Berlin und in Anwesenheit von Vizekanzler Müntefering einen bemerkenswerten Appell an die Verantwortlichen in Politik und Gesellschaft gerichtet: Sie sollten bei den Bemühungen um die Integration seiner Landsleute Abstand von Zwangsmaßnahmen nehmen und damit aufhören, "den Islam nach ihren eigenen Vorstellungen zu gestalten".

Dieser Appell hat in der türkischen Presse ein breites und positives Echo ausgelöst. Tatsächlich hat der Botschafter ein zentrales Problem unserer Asyl- und Innenpolitik angesprochen und einen Anstoß zur Erinnerung an einige einstmals selbstverständliche Grundsätze unseres Verfassungs- und Rechtsverständnisses gegeben. Die öffentlichen Auseinandersetzungen auf wichtigen Feldern unserer Politik werden offenkundig in zunehmendem Maße von den Bemühungen um die Entwicklung gemeinsamer "Werte" bestimmt, in manchen Bereichen bereits diktiert. Europa soll sich als eine "Wertegemeinschaft" verstehen; die Bundeswehr soll durch ihre Auslandseinsätze gemeinsame Werte verteidigen; die Integration von Hunderttausenden Ausländern soll nach Maßgabe eines gemeinsamen "Wertekanons" erfolgen usw. usf. Dazu gehört dann die Betonung von Gemeinsamkeiten wie Toleranz, Respekt vor anderen Wertvorstellungen und Anerkennung der in einer multikulturellen Gesellschaft vertretenen Moralvorstellungen. Dazu gehört aber auch - und davon wird in der Regel kaum gesprochen! - die Unterscheidung, ja die Feststellung der Unvereinbarkeit bestimmter Werte, etwa der christlichen, islamischen, sozialistischen oder liberalistischen. Das Wesentliche einer Rechtsordnung, einer Religion oder einer Ideologie läßt sich jedoch nicht an dem Ausmaß der Gemeinsamkeiten, sondern an der Qualität der Unterschiede erfassen, die sich zum Teil über die Jahrhunderte erhalten haben. Wer sie verschweigt oder nach eigenen Vorstellungen umdeutet, setzt sich dem Verdacht der Täuschung aus. Wer das nicht will, wird deshalb einen zeitlosen Ratschlag Sokrates' beachten müssen: "Wer einen anderen täuschen will, ohne dabei selbst getäuscht zu werden, muß die Ähnlichkeiten der Dinge und ihre Unähnlichkeiten genau auseinanderhalten."

Über die vermeintlichen Ähnlichkeiten von Christentum und Islam sind wir inzwischen hinreichend informiert. Über die Unähnlichkeiten hingegen noch nicht. Warum nicht?

 

Prof. Dr. Klaus Motschmann lehrte Politikwissenschaften an der Hochschule der Künste Berlin.


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