© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 45/06 03. November 2006

Geklittertes für die Volkspädagogik
Jochen Böhlers Pamphlet über den "Vernichtungskrieg" in Polen 1939 erfährt eine ungeahnte Verbreitung
Stefan Scheil

Wer Anfang Oktober über die Frankfurter Buchmesse schlenderte, der konnte am Stand der Bundeszentrale für politische Bildung ein neues Bändchen entdecken, gehalten im schlichten Standard-Weiß des Hauses, wohlfeil zum Preis von zwei Euro: "Auftakt zum Vernichtungskrieg - die Wehrmacht in Polen 1939". Damit geht ein Skandal in eine neue Dimension, der seit mehreren Jahren die Gemüter bewegt. Das Deutsche Historische Institut in Warschau unternimmt in Zusammenarbeit mit dem polnischen Institut des Nationalen Gedenkens seit dieser Zeit einen gemeinsamen geschichtspolitischen Amoklauf, der sich zunächst in einer weiteren "Wehrmachtsausstellung" zum Thema Verbrechen der Wehrmacht in Polen äußerte, ("Größte Härte ...", zur Ausstellung JF 40/05; zum Katalog JF 10/06). Was jetzt als Fortsetzung dessen im Namen von politischer Bildung auf das deutsche Volk losgelassen wird, ist nichts geringeres als der doppelte Versuch, den Holocaust am 1. September 1939 in Polen beginnen zu lassen und bereits die Kämpfe der Wehrmacht während des Polenfeldzugs mit unter diesen Begriff zu zwingen.

Als Hauptschöpfer dieser Geschichtsblase fungiert nach außen der Nachwuchshistoriker Jochen Böhler, der bereits als Doktorand Schlagzeilen machte, als er 2004 die Republik mit der Behauptung konfrontierte, der Zweite Weltkrieg habe gar nicht auf der Danziger Westerplatte begonnen, sondern mit einem Terrorangriff der Luftwaffe auf die polnische Kleinstadt Wielun. Treuherzig plapperten die deutschen Medien dies mehrheitlich nach, die Hamburger Zeit genauso wie das Fernsehmagazin "Frontal 21". Tatsächlich handelte es sich um Unsinn, der sich aus den Akten im Bundesarchiv ebenso schlüssig widerlegen ließ, wie aus den Darstellungen der polnischen Exilregierung selbst. Der Angriff auf Wielun galt militärischen Zielen, wie der Militärhistoriker Horst Boog auch in diesem Blatt ausführte (JF 40/04). So sah sich Böhler zum Zurückrudern gezwungen und verbannte sein Renommierobjekt "Wielun" inzwischen in die Fußnoten, nicht aber ohne weiterhin von "Hunderten Angriffen" der Luftwaffe auf rein zivile polnische Orte zu raunen. Nur weiß jeder, der sich mit den Materialien im Bundesarchiv auskennt, und Böhler gehört zu dieser Personengruppe, daß die Einsätze der Luftwaffe 1939 durchgängig militärischen Zielen galten und dies auch in zahlreichen Befehlen vor und Zielaufnahmen nach den Angriffen entsprechend dokumentiert ist.

Erst wer dies berücksichtigt, wird eine angemessene Ahnung davon bekommen, wieviel politischer Wille nötig ist, um dennoch öffentlich das Gegenteil zu behaupten und dies nicht nur in die tagesaktuellen Medien, sondern auch in die renommierte "Schwarze Reihe" des Fischer-Verlags, in der Böhlers Dissertation zunächst erschien und schließlich in die Veröffentlichungen der Bundeszentrale für politische Bildung zu drücken.

Inhaltlich ist Böhlers Kampfschrift schnell skizziert. Soweit er sich auf Sekundärliteratur stützt, ist es meist polnische aus realsozialistischer Zeit, ergänzt durch Einlassungen der bekannten linken Eckpfeiler bundesdeutscher Historikerzunft wie Manfred Messerschmidt, Wolfram Wette oder Werner Röhr. Irgendwelche politischen Ursachen für den deutschen Angriff auf Polen gab es demnach nicht. Von Verfolgungen der Deutschen in Polen, polnischen Kriegsdrohungen, der totalen Mobilisierung der polnischen Armee vom 30 August 1939 oder der Zuversicht in der polnischen Regierung, im Konfliktfall auf Berlin marschieren zu können, berichtet der Autor entweder nichts oder erklärt sie für erfunden. Überhaupt findet die polnische Armee in dieser Darstellung des Polenfeldzugs so gut wie gar nicht statt, obwohl mit den 39 Divisionen und 16 Brigaden allein etwa eine Millionen Soldaten mobilisiert der Wehrmacht mit ihren etwa 1,8 Millionen Soldaten entgegenstanden. Es gibt sie nirgends und das ist eine wichtige Voraussetzung, denn nur weil es sie angeblich nicht gibt, kann Böhler die Kampfhandlungen der Wehrmacht zum Verbrechen stempeln, ständig von Angriffen auf angeblich unbefestigte Ortschaften sprechen und jeden deutschen Bericht von Gefechten in unübersichtlichem Gelände für eine Ausgeburt von deutschem Slawenhaß und "Freischärlerwahn" erklären.

Damit das funktioniert, müßten praktisch sämtliche überlieferten Akten und Gefechtsberichte der deutschen Wehrmacht bewußt zensiert oder frei erfunden sein, ebenso die Eintragungen über Heckenschützenangriffe, die sich in privaten Tagebüchern finden. Jede polnische Zeugenaussage über deutsche Übergriffe müßte dagegen vollständig wahr sein, selbst wenn sie auf anonymen Anschuldigungen beruht. Genau das behauptet Böhler auch mehr oder weniger. Die Wehrmacht sei "Sinnestäuschungen" zum Opfer gefallen, meint er. "Unschärfen bei der Beschreibung des Gegners" legen diese Einschätzung seiner Meinung nach nahe. Im wesentlichen habe man sich daher gegenseitig beschossen und den Ärger darüber dann durch Mordaktionen an der polnischen Bevölkerung ausgelassen. Hier wird der Polenfeldzug zum Phantasieprodukt - des Historikers.

Das treibt besondere Blüten. So führt Böhler den angeblichen Slawenhaß der Wehrmacht auf die "Ausgrenzungsmechanismen" des Dritten Reichs zurück und nennt in diesem Zusammenhang den seit 1935 verlangten Ariernachweis. Ein Blick in einen solchen hätte den Autor allerdings darüber belehren können, daß dort neben dem deutschen und zahlreichen anderen Völkern ausdrücklich auch das polnische als arisch eingestuft war und jeder deutsche Soldat dies schwarz auf weiß nach Hause tragen konnte. Statt "ideologischer Kriegsvorbereitung" wurde fast während der gesamten Zeit von 1933 bis weit ins Jahr 1939 hinein auf persönliche Weisung des deutschen Diktators in den Medien "nichts abträgliches" über Polen berichtet. Die Republik Polen galt ihm bis zu ihrem Stahlpakt mit England als Verbündeter oder wenigstens neutraler Nachbar. Vor diesem Hintergrund entpuppen sich weite Teile von Böhlers Text als reine Fiktion, in denen der Autor eigene Spekulationen als historische Tatsache darstellt und dann Mutmaßungen über deren Ursachen anstellt.

Die Untergrundberichte der Sozialdemokratie meldeten 1939, die Schilderungen heimkehrender deutscher Soldaten hätten alles übertroffen, was von der deutschen Presse über polnische Verbrechen berichtet worden sei. Auch vor diesem Hintergrund werfen die Schuldzuweisungen Böhlers an die Wehrmacht ein fahles Licht auf die Qualitätskontrolle innerhalb der deutschen Historikerzunft. Der politische Wille dominiert in wichtigen Bereichen der Zeitgeschichte derzeit offenbar klar über die fachliche Seriosität. Das ist nichts neues. Wenn ein derartiges Pamphlet allerdings nun mit dem guten Ruf und den Steuermitteln der Bundeszentrale für politische Bildung subventioniert wird, ist eine weitere Schmerzgrenze überschritten. Es wäre angemessen, diese Fehlentscheidung schnellstmöglich zu korrigieren.

Jochen Böhler: Auftakt zum Vernichtungskrieg. Die Wehrmacht in Polen 1939. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2006, broschiert, 288 Seiten, 12,95 Euro

Foto: Insgesamt waren am 1. September 1939 fast eine Million polnische Soldaten mobilisiert; polnische Panzerabwehr, Luftwaffe, Infanterie und Panzer: "Sinnestäuschungen" zum Opfer gefallen


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