© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 45/06 03. November 2006

Mehdorn unter Druck
Geschichtspolitik: Gegen den Widerstand des Bahnchefs soll auf Bahnhöfen eine Ausstellung über die Judendeportation gezeigt werden
Ekkehard Schultz

Soll ab 27. Januar 2008 auf deutschen Bahnhöfen eine Ausstellung gezeigt werden, die sich mit den Deportationen jüdischer Kinder während des Zweiten Weltkrieges auseinandersetzt, die mittels Zügen der damaligen Deutschen Reichsbahn stattfanden und in den Konzentrationslagern des Ostens endeten? Oder ist dieses komplexe Thema nur mittels einer größeren musealen Aufarbeitung vermittelbar? Über diese Fragen streiten seit mehr als drei Jahren der Chef der Deutschen Bahn (DB), Hartmut Mehdorn, und die Organisation "Elftausend Kinder", die federführende Kraft des Ausstellungsprojektes "11.000 jüdische Kinder. Mit der Reichsbahn in den Tod".

"Elftausend Kinder" ist ein deutscher Ableger der von der "Nazi-Jägerin" Beate Klarsfeld gegründeten Organisation "Die Söhne und Töchter der ermordeten Juden aus Frankreich". Der französische Verein konzipierte und erarbeitete vor fünf Jahren eine Ausstellung, in der das Schicksal deportierter jüdischer Kinder mit Hilfe von Fotos und anderen Belegen dokumentiert wurde. Während des Jahres 2002 wurde die Präsentation auf 18 großen französischen Bahnhöfen gezeigt. Anschließend wollte Klarsfeld eine vergleichbare Ausstellung auf deutschen Bahnhöfen präsentieren.

Bereits 2003 wurde daher eine provisorische Ausstellung von "Elftausend Kinder" erarbeitet, die von der Dienstleistungsgewerkschaft Verdi subventioniert und in einigen Verdi-Gebäuden gezeigt wurde. DB-Chef Mehdorn lehnte indes das Ansinnen ab, diese Ausstellung auch auf den Bahnhöfen deutscher Großstädte zu präsentieren, da das Thema dort nicht wirklich umfassend und ausgewogen behandelt werden könne. Statt dessen schlug Mehdorn vor, die Ausstellung im Nürnberger Bahnmuseum als Beitrag zur Geschichte des Unternehmens im Dritten Reich zu zeigen, da die Inhalte "viel zu ernst" seien, um sich "in Eile auf dem Weg zum Zug" damit zu beschäftigen.

Dieser Vorschlag des Bahnchefs fand jedoch kein Interesse bei der Organisation "Elftausend Kinder". Zur Begründung sagte Klarsfeld in einem Tagesschau-Interview, daß das Anliegen der Initiatoren in einem Bahnhof "viel deutlicher herausgestellt" werden könne "als in einem Museum". Man erreiche in Bahnhöfen nicht zuletzt ein größeres Publikum dadurch, daß dort "kein Eintritt bezahlt" werden müsse, sagte Klarsfeld. Zudem hielt sie die Argumente Mehdorns für vorgeschoben und warf ihm vor, in Wirklichkeit dieses Kapitel der Geschichte des Unternehmens Bahn verdrängen zu wollen. Da es zu keiner Einigung kam, zeigte die Organisation ohne Erlaubnis der DB in einigen Bahnhöfen Kinderbilder, unter anderem in Frankfurt am Main, Karlsruhe und Stuttgart. Damit wollte "Elftausend Kinder" darauf aufmerksam machen, daß sich die Bahn der Ausstellung angeblich "verweigere". Zudem sollte damit Druck auf Mehdorn ausgeübt werden, seine Entscheidung doch noch zu revidieren.

Doch auch dieser Schritt führte nicht ans Ziel. Deshalb versucht es die Organisation nun mit anderen Mitteln. Zunächst wurde das Hamburger "Institut für Sozialforschung", das bereits die Ausstellung über die "Verbrechen der Wehrmacht" erarbeitet hatte, zur wissenschaftlichen Zusammenarbeit und zur generellen Unterstützung des Vorhabens gewonnen. Deren Chef, Jan Phillipp Reemtsma, gab bekannt, daß er sich an der aktiven Ausarbeitung des Projektes nur beteiligen würde, wenn die Ausstellung "direkt auf den Bahnhöfen" und nicht nur im Museum gezeigt wird. Gleichzeitig bat "Elftausend Kinder" die Abgeordneten der Bundestagfraktionen sowie Bundesverkehrsminister Wolfgang Tiefensee (SPD) um Unterstützung des Vorhabens.

Doch auch Tiefensee, der sich vorbehaltlos auf die Seite der Organisation schlug, gelang es bislang nicht, mit Mehdorn eine Vereinbarung im eigenen Sinne zu treffen. Als der Bahnchef in einem persönlichen Gespräch vor zwei Wochen seine Zustimmung zur Präsentation der Ausstellung auf Bahnhöfen erneut verweigerte, verließ Tiefensee umgehend die Bahn-Zentrale und lehnte die Fortsetzung des Dialoges ab. Daraufhin forderten Abgeordnete von SPD, FDP, Grünen und PDS erneut, schärfer gegen Mehdorn vorzugehen. So sagte etwa der Parlamentarische Geschäftsführer der Grünen im Bundestag, Volker Beck, wenn Mehdorn nicht "zur Einsicht" komme, müsse der Deutsche Bundestag darüber debattieren.

Die Sprecherin der SPD-Bundestagsfraktion für Kultur und Medien, Monika Griefahn, forderte die Bahn auf, "ihre historisch unbegründete und unmoralische Resistenz" gegenüber der Ausstellung aufzugeben. Mehdorns Gegenargumente seien "gänzlich unangebracht und nicht nachvollziehbar", sagte Griefahn. Der FDP-Verkehrsexperte Horst Friedrich forderte nach dem gescheiterten Verständigungsversuch Tiefensee auf, den "Geisterfahrer" Mehdorn mittels einer Dienstanweisung auch gegen dessen Willen zum Einlenken zu zwingen.

Auf Mehdorns Seite hat sich indes der Publizist Henryk M. Broder geschlagen. In einem Kommentar für Spiegel-Online vom vergangenen Samstag kommt Broder zu der Einschätzung, daß der DB-Chef mit seiner Argumentation Recht habe: "Eine Ausstellung über 11.000 Kinder, die im wörtlichen Sinne vom Leben in den Tod befördert wurden, gehört nicht auf einen Bahnhof", schreibt Broder. Im Hinblick auf die deportierten jüdischen Kinder sei es "eine Frage der Pietät, sie nicht zu Objekten einer Ausstellung zu degradieren". Zudem sei es "auch nicht so, daß man das historische Wissen erst etablieren muß. Die Fakten sind bekannt. Es gibt auch keinen Mangel an Dokumentationen, Analysen und Erinnerungsstätten", schreibt Broder.


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