© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 44/06 27. Oktober 2006

Der eisige Wind aus dem Osten
Ein eindrucksvoller Roman dokumentiert den Phantomschmerz eines spätgeborenen Vertriebenen aus dem Böhmerwald
Berthold Schuh

Bücher über die Vertreibung der Sudetendeutschen vor mehr als sechzig Jahren wird es inzwischen viele Regalmeter weit geben: Erlebnisberichte, wissenschaftlich fundierte Abhandlungen, Tagebücher, lyrische Klagen, Hörfunk- und Filmgestaltung, tschechische Stellungnahmen (selten), Bücher mit Erinnerungen, Versöhnungsappelle, Zukunftspläne und-so-weiter. Sind die Schreibgefilde in diesem Bereiche nicht schon abgegrast? Die Standorte nicht schon allesamt besetzt, von denen aus das historische Ereignis als Ganzheit oder als Einzeltragödie beleuchtet, betrachtet und beurteilt werden kann? Verbrechen, Schuld, Sühne - "Es reicht!" wird mancher schon murmeln.

Und dennoch läßt ein Buch aufhorchen und nachdenken, es verwundert seine Leser, beunruhigt und verstört sie bis zu Tränen der Teilnahme. Es ist ein verwirrendes Buch, vielschichtig und gescheit, ein Mix aus Heimatliebe und Ironie und Phantasie. Der Autor heißt Franz Strunz, geboren 1941 "tief drin im Böhmerwald", hat also die Vertreibung aus der grünen Wiesen- und Waldheimat als unverständig Büblein noch gerade miterlebt. Aber nicht aus dieser möglichen Perspektive des tumben Toren entwickelt Strunz den "Roman", der streng genommen keiner ist, sondern als gebildeter Altphilologe, wortgewandter Romanist, engagierter politischer Kopf und gleichzeitig als warmherziger, bekennender Böhmerwäldler aus dem vom böhmischen Ost-wind bedrohlich umfauchten Dörflein Fürstenhut bei Winterberg. Dieses existiert übrigens nicht mehr, ist eine der 1945 radikal beseitigten 950 Ortschaften; die meist ärmlichen Behausungen der Fürstlich Schwarzenbergischen Holzhauersiedlung wurden eingeebnet, die Kirche aus massiven Granitblöcken wegen der Grenznähe gesprengt.

In die Chronik des Dorfes, dargetan an Familienschicksalen, flicht der Erzähler die Biographie des bedeutendsten Fürstenhuters, des Volkskundlers Rudolf Kubitschek mit ein, der die Mundarten des gesamten Böhmerwaldes sowie das Erzählgut des Volkes erforscht hat und mit Ortsfesten das Kulturleben seiner Landsleute förderte. Ernste und vergnügliche Kurzgeschichten, Episoden, Anekdoten finden sich in dem Buche noch und noch. Sie eignen sich zum Vorlesen etwa an einem Kulturtag der Sudetendeutschen Landsmannschaft, wie beispielsweise die Geschichte zweier Kinder, die sich beim Grasholen im Wäldermeer verirren: ein Kabinettstück des Erzählens, das sich wie einst Adalbert Stifter an der antiken Rhetorik geschult hat. Strunz baut Gespräche zwischen seine Epik, erdachte Dialoge, leidenschaftliche Dispute. Da liegt es nahe, sie mit "verteilten Rollen" zum Vortrag zu bringen: nach Sinnlichkeit und praller Lebensfreude der todeskalte Anhauch des böhmischen Windes, das Grauen, das Gräßliche. Sinnloses Sterben. Ein Narr irrt noch eine Zeitlang über die öde Stätte, einst Lachen, nun Leichen.

Der Autor kniet sich aber auch in Vorgeschichte und objektiven Ablauf der Vertreibung hinein. Das Verbrecherische, ja Teuflische der Vorgänge, und auf der anderen Seite die Tragik, Ausweglosigkeit der Sozialdemokraten, ursprünglich wohlmeinender Tschechen, hilfloser Gutmenschen im Inferno des Hasses. Der Altphilologe Strunz konfrontiert antike Heroen mit zeitgenössischen Figuren und Vorgängen. Wären bei griechischen Zitaten die Worte mit lateinischen Lettern wiedergegeben, hätten sich allerdings alle Leser am Klang des Griechischen erfreuen können. Das Buch endet mit einer grandios ironischen Parodie: das Land erblüht unter seinem Wohltäter Eduard dem Gütigen, die Völker vertragen sich. Statt des böhmischen Windes fächelt ein zärtlicher Zephir. Ironie meint das Gegenteil dessen, was sie sagt. Fürwahr ein reiches Buch, reich im Inhalt, reich in seiner stilistischen Ausformung, vielschichtig und vielgestaltig, ein spannendes Leseabenteuer.

Franz Strunz: Böhmerland. Roman. Verlag Stekovics, Dößel 2006, broschiert, 260 Seiten, 24,80 Euro, Subskriptionspreis 19,80 Euro bis zum 30. November 2006 direkt beim Verlag, Straße des Friedens 10 in 06198 Dößel


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