© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 44/06 27. Oktober 2006

CD: Rock
Grenzgänger
Dominik Tischleder

Liebhaber der Musik kennen das Begriffspaar "E-Musik" und "U-Musik", das "E" steht für "ernste", das "U" für "Unterhaltungsmusik. "E-Musik" ist das Feld der klassischen Musik und der akademisch geschulten Avantgarde, "Unterhaltungsmusik" das Ergebnis von Rock und Pop, zwei unterschiedliche Welten, deren Vertreter bis heute wenig gemein haben.

Die Aufhebung dieser Grenzen und Hierarchien ist das große Lebensthema des 1942 in Wales geborenen Komponisten und eben auch nur halb geläuterten Punkrockers John Cale.

Cale galt als musikalisches Wunderkind, lernte früh Klavier und Bratsche, noch im Grundschulalter spielt die BBC seine erste eigene Komposition. Seine spätere Musikkarriere, unter anderem gefördert durch Leonard Bernstein, verschlägt ihn in die Kreise der New Yorker Avantgarde. Berühmt wurde Cale jedoch vor allem als Mitglied der von Pop-Art- Künstler Andy Warhol protegierten Sechziger-Jahre-Band Velvet Underground. Ganz dem Programm der Pop Art entsprechend, oszillierten Velvet Underground eigentümlich zwischen Pop- und Hochkultur. Die Band war für Cale ein Versuch, zusammen mit seinem damals noch kongenialen Partner Lou Reed seine in der Avantgarde gemachten Erfahrungen in den Bereich des Rock'n'Roll zu überführen.

Velvet Underground gelten heute vielerorten als eine der einflußreichsten Bands der Rockmusikgeschichte. Ab 1968 setzte John Cale zu einer - obgleich von den Kritikern geliebt - mäßig erfolgreichen Solokarriere an, die bis heute andauert und sich jeder musikalischen Kategorisierung entzieht. Er spielte weiterhin destruktiv bedrohlichen Punkrock, kehrte aber auch immer wieder mit Choralwerken und ganzen Suiten zu seinen klassischen Ursprüngen zurück.

Vor einigen Wochen erlebte nun die Musikwelt die Wiederveröffentlichung eines seiner schönsten und zugänglichsten Werke, "Paris 1919" (Warner Bros Rec.). Viele zählen das Album, im Original 1973 erschienen, zu den besten Pop-Platten der siebziger Jahre. "Schön" ist dann auch schon das passende Stichwort, denn "Paris 1919" ist tatsächlich so etwas wie John Cales Suche nach dem Wahren, Guten und Schönen. Verschwunden sind hier all die Dissonanzen, die zumindest 1972 sein Werk noch überwiegend bestimmten, statt dessen filigrane, harmonische, von den Beatles beeinflußte Popmusik.

Das Klangbild bestimmen bedächtig gezupfte Akustikgitarren, Klavier, viele Streicher. Cales unprätentiöser Gesang sowie ein stumpf klingendes, minimalistisches Schlagzeugspiel, das die Erinnerung an Velvet Underground wachhält, verhindern das Abgleiten zum Kitsch. Cale bezeichnete das Album als Versuch, möglichst charmant etwas Häßliches zu sagen. Im Albumtitel wird verklausuliert auf den "Friedensvertrag von Versailles" hingewiesen, der 1919 formal den Ersten Weltkrieg beendete, tatsächlich aber eher eine Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln war und die bekannten Folgen gebar. Die Texte des Albums lesen sich wie subtile "Versprechen, daß Blut fließen werde", wie es im Begleittext heißt. Songtitel wie "Graham Greene", womit natürlich der britische Schriftsteller gemeint ist, der sich in seinen katholisch geprägten Romanen immer mit der Frage der Schuld ausseinandersetzte, oder "Macbeth" laden zu einer tieferen Beschäftigung ein.

Die Neuauflage von "Paris 1919" bietet neben einem verbessertem Klang zehn bisher unbekannte Alternativversionen alter Kompositionen, die zum Teil beträchtlich von den bisherigen Originalen abweichen und so mitsamt dem kenntnisreichen Begleittext den Entstehungsprozeß dieses unter Kennern hoch geschätzten Geheimtips der Rock- und Popgeschichte nachvollziehbar machen.


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