© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 44/06 27. Oktober 2006

Der soziale Kitt bröckelt
Unterschicht: Wer nichts mehr zu verlieren hat, muß sich nicht mäßigen
Jost Bauch

Nicht nur als Soziologe reibt man sich verwundert die Augen: Da behauptet ein ehemaliger SPD-Vorsitzender doch tatsächlich in Reaktion auf eine Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung, so etwas wie eine soziale Unterschicht gäbe es in Deutschland nicht. Das sagt der Exponent einer Partei, die vor gut 40 Jahren noch von der Klassenspaltung der Gesellschaft gesprochen hat. Herr Müntefering, wechseln Sie die Partei oder belegen Sie schnell einen Grundkurs in Soziologie! Dort lernen Sie, daß Gesellschaften immer vertikal ungleich, also in soziale Schichten untergliedert sind. Eine soziale Unterschicht gibt es immer. So wie es im Straßenverkehr und in der Politik rechts und links gibt, so gibt es in der Gesellschaft oben und unten! Die Soziologie hat zur Erfassung der schichtenspezifischen Differenzierung der Gesellschaft mittlerweile zuverlässige Instrumente entwickelt. So beispielsweise den Schichtindex von Kleining und Moore, der über Einkommen, Bildung und berufliche Stellung drei unterschiedliche Schichten ausmacht: die Oberschicht, die Mittelschicht und die Unterschicht, die jeweils noch in untere, mittlere und obere unterschieden werden, so daß insgesamt neun Schichtausprägungen vorliegen. Untersucht man nach dieser Schichtdifferenzierung die Gesellschaft, so stellt man fest, daß alle sozialen Güter zwischen diesen Schichten ungleich verteilt sind: Die oben haben mehr, die unten haben weniger. Einkommen, Bildung, Ansehen, aber auch das Sprachverhalten, die Einstellungen, das Erziehungsverhalten, die Gesundheit, ja selbst Karies und Parodontose variieren schichtspezifisch.

Soziale Folge der Zugehörigkeit zu einer Schicht ist insbesondere ein jeweils unterschiedlicher Zugang zu sozialen Ressourcen, Lebenschancen und Lebensstilen. Die Schichtzugehörigkeit einer Person hat so großen Einfluß auf die Lebensgestaltungsmöglichkeiten des Individuums. Wenn auch die determinative Kraft für die Lebensgestaltung des Menschen durch seine Schichtzugehörigkeit unbestritten ist, so zeichnen sich offene Gesellschaften dadurch aus, daß soziale Mobilität zwischen den Schichten besteht: Der Einzelne kann auf- oder absteigen. Dies unterscheidet Schichten von Klassen oder Kasten, die relativ undurchlässig das Schicksal von ganzen Generationen geprägt haben.

Eigentlich weiß man das seit 1926, als Theodor Geiger in einer Volkszählung die deutsche Gesellschaft der Weimarer Republik in fünf "Hauptmassen" untergliederte. Das alles ist also weder neu noch sensationell. Brisant wird die Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung allein durch die Tatsache, daß - auch bedingt durch Hartz IV - die soziale Unterschicht in Deutschland bevölkerungsmäßig wächst und daß die Lebensbedingungen innerhalb der Unterschicht sich weiter verschlechtern. Die Differenz zwischen Oben und Unten nimmt zu, wobei die Durchlässigkeit der einzelnen Schichten abnimmt: Ist man einmal unten gelandet, gibt es keine Möglichkeit des sozialen Aufstiegs mehr. Der Traum von der "nivellierten Mittelstandsgesellschaft" (Helmut Schelsky) ist ausgeträumt.

Konnte der Münchner Soziologe Ulrich Beck noch in den achtziger Jahren von einem "Fahrstuhleffekt" nach oben sprechen, also der Reproduktion des Schichtungssystems mit gleichen relativen Abständen zwischen den Schichten auf höherer Ebene, so daß Arbeiter nun in den Genuß von Lebensbedingungen kamen, die in früheren Zeiten den Angestellten vorbehalten waren, so gibt es heute einen "halbierten" Fahrstuhleffekt nach unten: Bis auf eine Schicht von Globalisierungsgewinnern (die immer wohlhabender wird) rutscht die Schichtpyramide ab "mittlerer Mittelschicht" insgesamt nach unten: die Lebensbedingungen verschlechtern sich.

Nicht die Tatsache der Existenz einer Unterschicht sollte uns beunruhigen, sondern die Tatsache der zunehmenden "Verelendung" innerhalb dieser Schicht. Ein "Subproletariat" entsteht, ein "Lumpenproletariat" in der Diktion von Karl Marx, ohne Arbeit, ohne Perspektive, ohne soziale Bindung. Dabei müssen sich die Politiker, die sich nunmehr über diese Entwicklung echauffieren, an die eigene Nase fassen: Sie haben zu diesem Status quo erheblich beigetragen, indem sie die wirtschaftspolitische Souveränität dieses Landes leichtfertig geopfert haben, indem sie die sozialen Sicherungssysteme bis zum heutigen Kollaps überdehnt haben, indem sie das Bildungssystem völlig in den Sand gesetzt haben, indem sie eine undifferenzierte Einwanderungspolitik betrieben haben und indem sie die Familie, die Keimzelle der Solidarität, entfunktionalisiert haben.

Dabei steht der soziale Friede auf dem Spiel. Da bislang alle Bevölkerungsgruppen am gesellschaftlichen Reichtum einigermaßen partizipieren konnten, waren die Menschen "ruhiggestellt", sie hatten etwas zu verlieren und hofften durch eigene Anstrengung auf weitere Besserung. Doch dieser "soziale Kitt" geht bei einer weitergehenden Verelendung von Teilen der Unterschicht verloren; wer nichts mehr zu verlieren hat, muß sich in seinen Affekten nicht mäßigen. Können gesellschaftliche Interaktionen nicht mehr durch symbolische Medien wie Geld, Prestige (Macht) und Vertrauen geregelt werden, dann kommt zunehmend Gewalt ins Spiel, und deren massenhaftes Aufkommen wird die Reste der Zivilgesellschaft hierzulande auf eine harte Probe stellen.

 

Prof. Dr. Jost Bauch lehrt Soziologie an der Universität Konstanz.


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