© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 43/06 20. Oktober 2006

Frisch gepresst

Stalins Schreckenswelt.Wie bereits sein Historikerkollege und Landsmann Stéphane Courtois (Das Schwarzbuch des Kommunismus, 1997) ist Nicolas Werth in die Todeszone des stalinistischen Klassenmordes vorgedrungen. Gestützt auf eine Untersuchung einer im Zuge der "Kulakenverfolgung" Anfang der dreißiger Jahre "fehlgelaufenen" Ansiedlung von "Sonderumsiedlern" in die "Müllzonen" Westsibiriens, beschreibt Werth die menschenverachtenden Deportationen von "sozial schädlichen Elementen, Parasiten und Kriminellen" in die sumpfige Unendlichkeit der Taiga. Die Deportation mehrerer tausend Menschen, die ohne Nahrung, teilweise nackt auf der unwirtlichen Insel Nasino inmitten des Ob-Stromes ausgesetzt wurden, führte neben massenhaftem Verrecken auch zu Kannibalismus. Die Sorge, daß diese Fälle publik würden, ließ die dortigen Verantwortlichen der Partei auf Veranlassung Stalins eine Untersuchung anstrengen. Neben der Aufdeckung grausamster Details wurde für die Herrscher des Gulagsystems Matwej Berman und Genrich Jagoda vielmehr offenkundig, daß alle Pläne einer opferreichen, aber nutzbringenden Ansiedlung in Sibirien weniger "effektiv" seien als Arbeitslager oder die später bei den "Säuberungen" 1937/38 bevorzugte massenhafte standrechtliche Liquidierung. Mit seinem vom Verlag als "Vermeidung von Voyeurismus" gelobten, etwas aktenorientiert-technokratischen Erzählstil macht Werth dem Leser die bildhafte Erschließung dieser Hölle nicht immer ganz leicht (Die Insel der Kannibalen. Stalins vergessener Gulag. Siedler Verlag, München 2006, 222 Seiten, gebunden, 19,95 Euro).

Kindheitskonzepte. Das humanistische Bildungsideal, welches von der Individualität des Menschen als einem Eigenwert ausgeht, ist uns selbstverständlich geworden. So selbstverständlich und eingängig, daß eine, vielleicht sogar kritische Reflexion dieses Gedankens für gewöhnlich ausbleibt. Nun gewinnen aber in der Gegenwart wieder Vorstellungen an Bedeutung, die von einer starken Vereinnahmung des Einzelnen durch eine Gemeinschaft ausgehend auch den scheinbar selbstverständlichen Freiraum des Kindes - Grundlage jeder humanistischen Persönlichkeitsentwicklung - hinterfragen. Angesichts dieser Perspektive scheint es lohnend, sich Sabine Andresens Werk "Sozialistische Kindheitskonzepte" (Politische Einflüsse auf die Erziehung. Ernst Reinhardt Verlag, München 2006, 249 Seiten, broschiert, 29,90 Euro) zu widmen. Die Bielefelder Erziehungswissenschaftlerin untersucht, basierend auf ihrer Habilitationsschrift, die Auseinandersetzung verschiedener sozialistischer Strömungen - namentlich der deutschen Sozialdemokraten und Kommunisten - um ein verbindliches pädagogisches Konzept. Die Stärke dieses Buchs liegt eindeutig in der Aufbereitung des Materials, da Andresen keine konkrete gegenwartsbezogene Forschungsfrage verfolgt.


Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen