© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 43/06 20. Oktober 2006

Deutschlands monetärer Aderlaß
Geldpolitik: "Deutsche" Euro finanzieren die Wirtschaftswunder an der europäischen Peripherie
Wilhelm Hankel

Wann immer die Europäische Zentralbank (EZB) ihren Dauerschlaf unterbricht und ihre Leitzinsen für die Banken von Euroland erhöht, können sich ihre Claqueure vor Begeisterung nicht fassen. Die EZB habe Vor- und Weitsicht bewiesen und den Euro rechtzeitig vor den heraufziehenden Inflationsgefahren geimpft, hieß es am 5. Oktober, als die Zinsen erneut um 25 Basispunkte auf 3,25 Prozent angehoben wurden. Was jedoch die EZB und die sie preisenden Währungsexperten ausmachen, sieht in der Realität (und den Statistiken) anders aus. Die EZB bekämpft mit ihren Zinsen nicht eine drohende Inflation, denn diese gibt es bereits. Sie paßt ihre Politik und ihre Zinsen dieser lediglich an.

Seit es den Euro gibt, eilen Eurolands "nachholende Ökonomien" (eine höfliche Umschreibung ihres ökonomischen Rückstands) der als Meßlatte vorgegebenen durchschnittlichen Inflationsrate von jährlich "etwas mehr als zwei Prozent" mit Siebenmeilenstiefeln voraus. Euroländer wie Irland und Spanien haben inzwischen einen kumulativen Inflationsvorsprung von über 20 Prozent erreicht, Italien und Spätkommer Griechenland fast ebensoviel. Jeder Geschäftsreisende oder Tourist registriert es, wenn er dort seine Hotel- oder Essensrechnung bezahlt, nur nicht die EZB.

Rückversicherung gegen eine straflose Inflationspolitik

Die Folgen sind für ein vergleichsweise stabiles und von Inflationsängsten geschütteltes Euroland wie Deutschland verheerend. Der ökonomische Rückstand macht die europäischen Inflationsländer für Realinvestoren (Unternehmen, Dienstleister) attraktiv, denn er hält die Betriebskosten (Löhne, Sozialabgaben, Steuern) niedrig. Für die Finanzinstitute solcher Länder wiederum ist es ein Bombengeschäft, Geld am deutschen Kapitalmarkt aufzunehmen; denn es kostet sie bei einer internen Inflationsrate, die den deutschen Kapitalzins übersteigt, weniger als nichts! Wen wundert es, daß der Abfluß von Real- und Finanzkapital aus Deutschland an die Peripherie Europas seit Abschaffung der D-Mark boomt.

Er war noch nie so groß wie in den Jahren danach. Mußte man früher als DM-Investor und -Anleger fürchten, viel Geld bei der nächsten Abwertung der dortigen Schwachwährungen (Pesete, Lira, Drachme usw.) zu verlieren, ist diese Gefahr jetzt gebannt. Und wer das "Risiko" auf sich nimmt, sich in harten "deutschen" Euro zu verschulden, kann sich später in den "weichen" Euro seines Heimatlandes entschulden. Die ökonomische Unsinns-Gleichung "Euro = Euro" für starke und schwache Währungsgenossen schaltet nicht nur jedes Währungsrisiko aus; sie ist die beste Rückversicherung gegen eine straflose Inflationspolitik im eigenen Land!

Doch das ist nicht alles: Der Inflationsvorsprung der weichen Euroländer passiviert auf dramatische Weise ihre Leistungsbilanzen gegenüber dem Ausland. Spanien überrundete 2005 mit seinem Negativsaldo gegenüber dem Ausland von über acht Prozent des Bruttoinlandsproduktes (BIP) sogar den Rekordhalter USA, der es "nur" auf sechs Prozent seines BIP brachte. Deutschland, das einzige Euroland mit einem kräftigen Leistungsbilanz-Plus (die Überschüsse Hollands und Irlands fallen kaum ins Gewicht) finanziert nicht nur die massiven Defizite der anderen im gemeinsamen Währungsboot; es bezahlt auch deren "Prasserei" zu Hause: den Überkonsum und die geborgten Investitionen. "Eigentlich" ist Deutschlands Fleiß und Tüchtigkeit an der internen Inflationsschlagseite des Euro schuld - denn ohne die deutschen Überschüsse könnten die anderen gar nicht über ihre Verhältnisse leben. Und der Euro wäre ein Weichei an den Weltfinanzmärkten, wie vordem Lira & Co.

Was daraus folgt, liegt auf der Hand, darf aber aus "europapolitischer Korrektheit" weder laut noch deutlich gesagt werden. Mit dem Euro saniert Deutschland Europa auf seine Kosten - er ist Teil von Deutschlands Restitutionen. Da regt sich die Öffentlichkeit auf über die paar Milliarden Euro Nettoeinzahlung in den EU-Haushalt (weniger als ein Prozent des BIP). Die deutsche Transferleistung über den Euro betrug mit rund 180 Milliarden Euro im letzten Jahr in Relation zum BIP fast eben soviel wie das spanische Defizit: acht Prozent. Der Vertrag von Versailles und Deutschlands Reparationen nach dem Ersten Weltkrieg (einschließlich der Folgen) lassen grüßen!

Den deutschen Firmen kommt der Ertrag ihrer Exportleistung voll zugute. Doch was hat die deutsche Volkswirtschaft davon, wenn aus diesen Forderungen aufs Ausland wiederum Überweisungen ans Ausland finanziert werden? In Deutschland fehlt es millionenfach an Arbeitsplätzen und an Milliarden Einkommen. Der Staat bricht unter den daraus resultierenden Soziallasten zusammen und muß trotzdem eisern sparen, weil ihm die Einnahmen fehlen und die Auflagen aus Brüssel ohne Abstrich erfüllt werden müssen.

Fortwährende deutsche Bluttransfusion für Europa

Weder die EU-Kommission noch die EZB honorieren Deutschlands immensen Beitrag zu den mit "deutschen" Euro finanzierten Wirtschaftswundern an der europäischen Peripherie. Und die Begünstigten auch nicht: Obwohl sie den von Deutschland verdienten Euro ihren Wohlstand verdanken, veranlaßt sie das nicht, besondere Solidarität oder gar Dankbarkeit für ihren "Bankier" an den Tag zu legen!

Wer immer den Euro und die ihn wie Manna auf Europa herabregnen lassende EZB erfunden hat, war entweder ein ökonomischer Dummkopf, der die Euro-Folgen nicht abschätzen konnte, oder ein gerissener Europäer, der sie nur allzugut einschätzte. Bei Abschluß der verhängnisvollen Maastricht-Verträge traf offenbar beides zusammen!

Für deutsche Ökonomen stellt sich die Frage, was Vorrang hat: die fortwährende Bluttransfusion für Europa oder die Sanierung des Binnenmarktes, von dem vier Fünftel aller Arbeitsplätze abhängen, der Mittelstand und die Staatsfinanzen. Würde das Land die Euro-Fessel abstreifen, könnte es sich eine andere Politik leisten als die des Exportierens um jeden Preis, die es à la longue zu einem zweiten Hongkong oder Singapur verkommen läßt. Europa würde davon profitieren. Es käme mit der Zugkraft einer wieder unter Dampf stehenden deutschen Konjunkturlokomotive sicherer voran als mit der von der EZB sogar mitfinanzierten Euro-Inflation.

 

Prof. Dr. Wilhelm Hankel war Direktor der Kreditanstalt für Wiederaufbau, danach Ministerialdirektor unter Karl Schiller (SPD). Unter seiner Ägide entstand die Bankenenquête von 1968. Er war maßgeblich an der Entwicklung der Bundesschatzbriefe beteiligt und führte die Terminbörse in Frankfurt ein. Seit 1967 lehrt er Währungspolitik an der Uni in Frankfurt am Main.


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