© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 43/06 20. Oktober 2006

Zeichensetzung
von Günter Bertram

Wer einen türkischen Völkermord des Jahres 1915 an den Armeniern einräumt, wird in der Türkei strafrechtlich verfolgt - wie noch unlängst Literaturnobelpreisträger Orhan Pamuk. Wer aber eben diesen Genozid in Frankreich bestreitet, riskiert dort schwere Strafen, falls ein Beschluß der Pariser Nationalversammlung vom 12. Oktober 2006 Gesetzeskraft erlangt. Beide Gesetze plustern sich wohlfeil auf als Zeichen für den anständig-korrekten Umgang mit der Geschichte, freilich aus je gegensätzlicher Perspektive und unterschiedlichem Interesse. Schärfer als in diesem Paradox lassen sich Verlust und Verluderung der kostbarsten Tradition Alteuropas kaum beleuchten - seiner liberalen Rechtsstaatlichkeit und freien Geisteskultur.

Beschämend, daß es just armenischen Intellektuellen vorbehalten bleibt, auf westliche Meinungs- und Gedankenfreiheit selbst für eine türkische Staats- und Lebenslüge zu pochen: Auch für sie könne nichts als das Gesetz des Geistes und der Kraft, niemals aber das Machtwort des Kadis gelten - dergleichen kennten sie von daheim! Wir aber haben wenig Grund, über die Franzosen oder Türken unsere Nasen zu rümpfen: Seitdem Paragraph 130 des deutschen Strafgesetzbuches - über das legitime Verbot der Hetze hinaus - weit und immer weiter ausufert und die freimütige Rede stranguliert, ist eine Eskapade wie die französische im Grunde nur Fleisch von unserem Fleisch und Bein von unserem Bein. Wird die Pariser Torheit endlich auch uns ein Aufwachen bescheren?


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