© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 42/06 13. Oktober 2006

Auf dem Weg zur Einheitsschule
Schleswig-Holstein: An der CDU-Basis wächst der Unmut über die Bildungsreform
Hans-Joachim von Leesen

Sieben Monate vor der vorgezogenen Bundestagswahl im vergangenen Jahr, die als Ergebnis die Große Koalition in Berlin gebar, hatten die Schleswig-Holsteiner in der Tendenz ähnlich gewählt. Heraus kamen im Norden fast gleichgewichtige Landtagsfraktionen von CDU und SPD, was auch in Kiel eine Große Koalition zur Folge hatte. Und deren Probleme gleichen denen in Berlin: Zwar gibt es einen Koalitionsvertrag, doch versuchen ihn beide Parteien so auszulegen, daß ihre jeweiligen Anhänger zufrieden sind und gleichzeitig möglichst viel von ihrer Ideologie durchgesetzt wird. Das gilt vor allem für die Sozialdemokraten, die gerade in Schleswig-Holstein über einige führungsstarke, ideologisch fest verankerte Persönlichkeiten verfügen. Die CDU ist da schon schlechter dran, denn deren Grundideen scheinen fast immer verhandelbar zu sein.

Anders als im Bund spielt auf Landesebene die Gestaltung des Schulsystems eine herausragende Rolle. Während die CDU seinerzeit mit der Parole in den Wahlkampf zog, das dreigliedrige Schulsystem nicht nur zu erhalten, sondern sogar weiterzuentwickeln, strebte die SPD unter Führung ihrer Bildungspolitikerin Ute Erdsiek-Rave die Einheitsschule an.

Jüngste Untersuchungen des Instituts der deutschen Wirtschaft hatten ergeben, daß in Schleswig-Holstein im vergangenen Jahr 24 Prozent der 15jährigen in die Kategorie der "Risikoschüler" gehören. Sie können selbst einfache Texte kaum verstehen. Jeder zweite 15jährige ist bereits einmal sitzengeblieben. Über zehn Prozent der Hauptschüler verlassen ohne Abschluß die Schule.

Diese erschreckende Bilanz läßt Sozialdemokraten zu dem Schluß kommen, das Versagen liege an mangelnder Förderung durch in der Regel sozial schwache und bildungsferne Eltern. Die Benachteiligung müsse aufgehoben werden, und das könne nicht zuletzt dadurch geschehen, daß die Unterschiede zwischen Hauptschule, Realschule und Gymnasium eingeebnet werden.

Nun widerspricht diese These den Forderungen, mit denen die CDU in den Wahlkampf gezogen war. Aber, wie man neuerdings von Vizekanzler Franz Müntefering (SPD) erfahren hat, ist es unfair, die Politiker an ihren Wahlversprechen zu messen.

Und so hat sich denn die schleswig-holsteinische CDU in den sich über geraumer Zeit hinziehenden Verhandlungen dazu entschlossen, den ersten Schritt zur Aufgabe eines ihrer wesentlichen Ziele zu tun. Beide Regierungspartner einigten sich, die Realschule abzuschaffen und nur zwei Schularten übrigzulassen. Die eine ist das Gymnasium, und an ihm soll nur insofern etwas verändert werden, als das Kurssystem in der Oberstufe zugunsten von Klassenbildungen abgeschafft wird. Auch soll es unter bestimmten Bedingungen möglich sein, das Abitur schon nach zwölf Jahren abzulegen.

Die Hauptschule ist längst ausgeblutet

Revolutionär kann man die Einrichtung von Gemeinschaftsschulen nennen. In ihr sollen in Zukunft Realschüler mit Hauptschülern zusammen lernen. So wird man einerseits die immer unbeliebter werdenden Hauptschulen los, die so ausgeblutet sind, daß sie nur noch abschreckend wirken.

Ob man allerdings ihre Schüler, die zum erheblichen Teil zum Lernen nicht motiviert sind, dadurch mitreißt, daß sie nun mit Realschülern in einer Klasse sitzen, darf bezweifelt werden, erfahrungsgemäß dürfte eher das Gegenteil der Fall sein.

So sollen denn in dieser Gemeinschaftsschule bis zur 10. Klasse alle Schüler mit entsprechender Binnendifferenzierung gemeinsam lernen. Es können sich Orientierungsstufen für die Einschulung ins Gymnasium anschließen. Fragt man Erdsiek-Rave nach ihrem Konzept, Sitzenbleiben in Zukunft abzuschaffen, winkt sie ab; sie will es "überflüssig machen", wie sie sich geheimnisvoll ausdrückt.

Um das Sitzenbleiben zu vermeiden, soll jeder Schüler stärker individuell gefördert werden. Nicht zuletzt deshalb hat bereits Anfang dieses Jahres beispielsweise die Landeshauptstadt Kiel angesichts der katastrophalen Lage im Wissensstand der Schüler 750.000 Euro aus einem Fonds "Hilfen zur Erziehung" vorgesehen, um schwierige Kinder und Jugendliche samt ihren Eltern zu unterstützen

Seltsam mutet es an, daß angesichts der Defizite der schulischen Bildung in den Grundschulen bereits vom dritten Schuljahr an Englischunterricht obligatorisch werden soll. Dann können Kinder, die mit 15 noch nicht in der Lage sind, einfache deutsche Texte zu verstehen, wenigstens auf ihre Englisch-Kenntnisse zurückgreifen.

"Wir wollen eine Schule, in der jedes Kind die Chance hat, alle Abschlüsse zu machen", sagte der SPD-Schulexperte Henning Höppner. Da taucht wieder die alte Schnapsidee der 68er auf, die damals allen Ernstes forderten, in einer Gesellschaft, wie sie sie sich vorstellen, würden alle Kinder Abitur machen.

Die CDU muß sich nun bemühen, ihre Wahlversprechungen vergessen zu machen. Allerdings nimmt die Unruhe an der Parteibasis zu, zumal bei den Kommunalpolitikern, die das neue Schulsystem vor allem durchsetzen müssen. Aber vermutlich wird spätestens auf deren Landesparteitag im November die Parteispitze ihren Gefolgsleuten klarmachen, daß bei einer Großen Koalition pragmatisch vorgegangen werden müsse, wenn man an der Macht bleiben und jeder seinen Posten behalten will.


Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen