© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 41/06 06. Oktober 2006

Zeit für frische Panini-Sticker
Florian Illies schwelgt mit seinem "Ortsgespräch" in der Trauer um die verlorene Langsamkeit
Silke Lührmann

Armer Florian Illies, so gerne möchte er sich zum Kaffeetrinken hinsetzen wie früher bei Tante Do. Soviel Muße aber ist in der Großstadt - oder auch: in der Moderne, wie er ab und an ominös raunt - nicht vorgesehen. Deren Bewohner sind statt dessen genötigt, "Cappuccino immer im Laufen aus hellbraunen Pappbechern zu schlürfen, als sei man beim Marathon und dürfe zwischendurch nicht anhalten". Das ist zu hübsch formuliert, um es nicht in allerlei Variationen wieder und wieder zu bedauern, vermittelt provinziellen Lesern aber einen durchaus falschen Eindruck vom Alltag in der Metropole.

Sowieso tut man sich als eher sozusagen zwangsverpflichtetes denn freiwilliges oder gar bekennendes Mitglied der Generation Golf schwer, deren Begründer viel Mitleid entgegenzubringen, zumal es Illies natürlich nicht um den Kaffee geht. Einst bei der Frankfurter Allgemeinen für die inzwischen eingestellten "Berliner Seiten" verantwortlich, muß er wissen, daß man diesen vom Prenzlauer Berg bis zum Schlachtensee in jedem halbwegs angesagten Gastronomiebetrieb serviert bekommt - bevorzugt mit viel aufgeschäumter Milch und in Gläsern, aus denen hierzulande bis vor kurzem tatsächlich nur Milch getrunken wurde. Und die Ruhe, ihn zu genießen ... nun, entgegen allen Diktaten der Arbeitswelt braucht man Zeit nicht zu gewinnen oder zu verlieren, man kann sie sich auch einfach nehmen.

Um ja nicht für einen Reaktionär gehalten zu werden - geschweige denn, sich selbst dafür halten zu müssen -, deklariert Illies seine Nostalgie postmodern-dekonstruktionistisch zur "Sehnsucht nach der Sehnsucht nach dem Landleben" um. Gelegentlich zitiert er den ein oder anderen Entschleunigungstheoretiker oder Evolutionsbiologen als Gewährsmann, um die Seriosität seines Anliegens zu unterstreichen, das da lautet: das Tempo drosseln. "Das war - aus der Perspektive des rollkofferziehenden Großstädters, der Städte, Partner, Arbeitsplätze wechselte - lange ein lähmender Alptraum. Doch langsam ändert sich das, denn warum sollte eigentlich der Ortsgebundene der Rückständige sein und nicht der Umherhetzende, so fragt man sich leicht erschöpft."

Daß sein Sehnen nach Zuhause irgendwie politisch, gar patriotisch sein könnte, diesen Verdacht räumt Illies schnell aus. Allenfalls gestattet er sich einen hämischen Seitenhieb gegen das Auslaufmodell Linksliberalismus: "Heimatgefühl war lange verboten, höchstens das Grundgesetz durfte man lieben, sein Auto oder seine Frau." Tatsächlich klingt sein Heimweh nach Usambaraveilchen, Neckermannkatalogen, der Kreissparkasse und dem Modergeruch seines persönlichen Heimatmuseums, des Elternhauses, arg wie die Trauer des Mittdreißigers um die verflogene Jugend. Marcel Proust hat sie einst besser, wenn auch langatmiger als "Suche nach der verlorenen Zeit" beschrieben.

Voraus hat Illies dem Franzosen einen so ansprechenden wie anspruchslosen Plauderton, der sich bisweilen ein bißchen Prahlerei nicht verkneifen kann. (Wo ich schon überall war! Ich kenne die Siesta in andalusischen Dörfern und Novembertage in der Normandie!) Voraus hat er ihm auch die technischen Mittel der haßgeliebten Moderne. Proust mußte mit einer Madeleine vorlieb nehmen, zwar das berühmteste Küchlein der Literaturgeschichte. Illies nähert sich dem Objekt beider Begierde, der verlorenen Zeit, die er in der osthessischen Kleinstadt Schlitz ortet, 467 Kilometer, drei Jahrzehnte und gefühlte Lichtjahre von Berlin 2006 entfernt, mit Hilfe von Google Earth, dem Manufactum-Katalog und Ebay, wo es Wolf-Biermann-Autogramme und vielleicht bald kistenweise naturtrüben Apfelsaft aus den frühen siebziger Jahren zu ersteigern gibt.

Gestandener Zeitungsmann, der er ist, freut er sich diebisch über jede Stilblüte aus dem Schlitzer Boten. Freilich, so klagt er, sei dessen Nachmittagsausgabe mit ihrem Redaktionsschluß um zehn Uhr morgens mittlerweile der Globalisierung zum Opfer gefallen, die "alles ein bißchen langweiliger und gleicher und unausgeschlafener" macht. Sein Schlitz wünscht er sich als Gallierdorf heroischen Widerstands gegen diesen Beschleunigungszwang: Immerhin stand dort vor nicht allzu langer Zeit die letzte Lochkartenfabrik Deutschlands, "während die Kinder schon auf dem C 64 Computerspiele zockten und selbst die einfachsten Geräte eine Speicherkapazität hatten, die einer Milliarde Lochkarten entsprach".

Dabei spricht sich Illies von der Illusionsseligkeit des Großstädters nicht frei, sondern schwelgt geradezu in deren Ironien. In Wirklichkeit nämlich träume auf dem Land "niemand von Ruhe und Naturprodukten, alle (von) Aldi und Computerspielen. Statt über Abgeschiedenheit hätten wir uns weit mehr über ein Kino gefreut." Und daß alles besser, wahrer oder auch nur schöner war, als die angehende Generation Golf zum Ortstarif telefonierte und Capri-Sonne trinken mußte, weil es noch keine Bionade gab, wird selbst ein ausgemachter Retropist wie Illies nicht behaupten wollen.

Was also tun? Sein Bruder, erzählt Illies, könne "sich sogar wieder vorstellen, irgendwann einmal als Landarzt nach Schlitz zurückzukehren". Denn er habe längst eingesehen, "daß ein Abwaschplan in der Studenten-WG strenger und jede AStA-Sitzung beklemmender sein konnte" als die einst gräflich verfügte und bis heute dank "Totalüberwachung durch Bademeister, Bäckersfrauen und Postboten" traditionsbewußt gepflegte Denunziationspflicht.

Womöglich sollte man sich nicht wundern, Illies' Namen demnächst im Impressum des Schlitzer Boten zu lesen. Als weniger drastische Kur für seine Wehmut empfiehlt sich indes ein Schnupper-Abo des hauptstädtischen Boulevardblatts B.Z. Dessen Werbeaktion "Zeit für frische Panini-Sticker!" bedient derzeit eine ganz ähnliche Gemütslage aus mildem Spott für das Damals, das zugleich ein Daheim war, und scharfem Schmerz ob der Erkenntnis, daß es unwiederholbar vorbei ist: die Sehnsucht nach der Sehnsucht eben.

Florian Illies: Ortsgespräch. Karl Blessing Verlag, München 2006, gebunden, 208 Seiten, 16,95 Euro


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