© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 41/06 06. Oktober 2006

Der Tod und die Nackttänzerin
Nicht nur ihre Auftritte inszenierte sie als endlosen Skandal: Lothar Fischers Biographie über Anita Berber liefert Rohstoff für künftige Forscher
Harald Harzheim

Berlin in den frühen zwanziger Jahren: ein Vulkan aus Inflation, Verschwendung, Kriegstrauma und rastlosem Rausch. Und sie tanzte mittendrin, auf den Bühnen nobler Kabaretts und großer Revuepaläste. Das Haar feuerrot und der nackte, dürre Körper leichenweiß. "Sie tanzt den Koitus!" rief Klaus Mann. Sie selbst fügte "den Tod, die Krankheit, die Schwangerschaft, den Wahnsinn, das Sterben, das Siechtum, den Selbstmord" hinzu.

Die Massengräber des Krieges, die Lebensgier und Sucht der Nachkriegszeit fanden in ihr künstlerische Artikulation. Anita Berber, 1899 in Dresden geboren, wurde mit ihrem morbiden Ausdruckstanz zu einer Ikone ihrer Zeit, von Intellektuellen wie vergnügungssüchtigem Publikum gleichermaßen umschwärmt. Der Dichter Max Herrmann-Neisse fand sie "konkurrenzlos", Otto Dix malte sie in dämonischem Rot, Stars wie Marlene Dietrich, Valeska Gert und Lya de Putti gehörten zum Freundes- und Liebhaberkreis.

Auch Leni Riefenstahl erinnerte sich am Ende ihres Lebens respektvoll an die skandalträchtige Kollegin. Beide tanzten während des Ersten Weltkrieges im gleichen Ensemble, als Riefenstahl eines Abends für die erkrankte Berber einsprang, mit diesem Debüt Erfolg hatte und damit ihre eigene Solokarriere als Tänzerin begann. Bekanntlich verliefen die Wege der zwei Frauen extrem konträr. Riefenstahl vertrat Form und klassische Schönheit, während Berber eine "Ästhetik des Häßlichen" kreierte, ein tänzerisches Pendant zur Malerei von Grosz und Dix bildete. Nichts konnte sie mehr provozieren als ein Publikum, das beim Betrachten ihres Tanzes lediglich voyeuristische Befriedigung suchte. Dann brach sie die Vorstellung spontan ab, sprang von der Bühne und prügelte auf den erstbesten Zuschauer ein.

Anita Berber inszenierte nicht nur ihre Auftritte, sondern auch das Privatleben als endlosen Skandal. Drogen, Exhibitionismus, Eifersuchtsszenen, Schlägereien: alles öffentlich, in den vornehmsten Nachtclubs und Hotels der Stadt.

Wenn das Publikum sie provozierte, schlug sie zu

Anfang der Zwanziger spielte die "Inflationstänzerin" auch in zahlreichen Stummfilmen unter prominenten Regisseuren wie Richard Oswald und Fritz Lang, neben Darstellern wie Conrad Veidt, Werner Krauss oder Paul Wegener. Viele dieser Werke paßten thematisch perfekt zu ihrem Image: Horrorfilme sowie Aufklärungsstreifen über Homosexualität ("Anders als die anderen", 1919) oder krankhaften Sadismus ("Dida Ibsens Geschichte", 1918).

Aber mit der finanziellen und mentalen Stabilisierung der Weimarer Republik nach 1923 sank ihr Stern. Es folgten rastlose Tourneen durch die großen Städte Europas bis in den Nahen Osten. Psychisch und physisch erschöpft starb sie 1928 im Berliner Bethanienhaus an Tuberkulose.

Danach war es lange still um Anita Berber. Erst in den 1980ern häuften sich postume Hommagen aus verschiedensten Bereichen: Rosa von Praunheim verfilmte ihr Leben, Karl Lagerfeld und Nina Hagen ließen sich durch sie inspirieren, unzählige Performances nutzten ihr Leben als Vorlage.

1984 legte der Kunsthistoriker Lothar Fischer, bis dahin Autor von Grosz-, Zille- und Dix-Monographien, eine erste Biographie vor. Diese hat jetzt unter dem Titel "Anita Berber - Göttin der Nacht" eine überarbeitete und stark erweiterte Neuauflage erfahren. Fischer hat in den vergangenen zwanzig Jahren noch wichtige Zeitzeugen interviewen sowie neues Text- und Bildmaterial beschaffen können. Seine fleißige Faktensammlung ist unschätzbarer Rohstoff - für einen künftigen Biographen.

Damit ist das Problem dieses Buches benannt. Neben minimalen Fehlern - der Berber-Film "Unheimliche Geschichten" (1919) ist zum Beispiel nicht der erste Episodenfilm überhaupt - fehlt Fischer die Fähigkeit, aus dem reichhaltigen Material eine plastische Figur zu zeichnen. Er bietet weder eine schlüssige psychologische Deutung noch eine intuitive Persönlichkeitsschau - nur gering kommentierte, aneinandergereihte Fakten, Anekdoten und Schnellschußanalysen von Zeitgenossen.

Wenn der Autor zum Beispiel einen Brief der 18jährigen Berber an den Anarchisten Erich Mühsam in der 1984er Auflage ausführlich zitiert, jetzt aber nur noch paraphrasiert, dann zeigt das, wie wenig ihm die Aussagekraft solcher Dokumente bewußt ist. Konsequenterweise hat Fischer auch seine damaligen Hinweise auf Berbers eigenwilligen Briefstil nicht etwa vertieft, sondern einfach vergessen. Die Neufassung der Biographie bringt neue Fakten, aber kein erweitertes Verständnis der Künstlerin.

Wie lebendig ist dagegen die Anita Berber in Leo Lanias Roman "Der Tanz ins Dunkel" (1929)! Jeder, der sich für ihre Persönlichkeit interessiert, wird darauf zurückgreifen müssen.

Für Fischer liegt die Bedeutung dieser Tänzerin vor allem in der Befreiung von bürgerlichen Konventionen, er versteht sie als eine Vorläuferin der Punkbewegung. Mag sein, aber ist nicht auch das eine Reduzierung? Eine solche Deutung wird der Komplexität ihrer Persönlichkeit, jener Mischung aus Protest, rastloser Suche und Religiosität, die sie bis zum Tod bewahrte, kaum gerecht. Gehört sie mit ihrer ekstatischen Todesmystik und Dämonie nicht in die Nähe des frühen Ernst Jünger oder George Batailles? Und wie ergiebig wäre ein Vergleich ihres Tanzes mit dem "Theater der Grausamkeit" ihres Zeitgenossen An-tonin Artaud! Für solche und weitere Fragen an Leben und Werk gibt es nun eine solide, faktische Grundlage - immerhin.

Lothar Fischer: Anita Berber. Göttin der Nacht. Edition Ebersbach, Berlin 2006, brosch., 216 Seiten, 140 Abbildungen, 25 Euro


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