© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 41/06 06. Oktober 2006

Geschichten aus den Trümmern
Schuld und Gewissen: Zum hundertsten Geburtstag des Filmregisseurs Wolfgang Staudte
Werner Olles

Die gespenstischen Ruinenstädte Deutschlands lieferten gleich nach dem Krieg Stoff und Kulisse zu einer ganz neuen Filmart, dem sogenannten Trümmerfilm. Zwar erwies sich dieser als ein recht zweifelhaftes Genre, doch entstanden auch einige außergewöhnliche Filme, die sich offen zu einer Wiederaufrichtung der persönlichen Freiheit bekannten, wie R.A. Stemmles "Berliner Ballade" mit Gert Fröbe als Otto Normalverbraucher, Helmut Käutners "In jenen Tagen" und Wolfgang Liebeneiners "Liebe 47". Der erste deutsche Nachkriegsfilm, Wolfgang Staudtes "Die Mörder sind unter uns", wurde allerdings 1946 in der Ostzone von der DEFA mit Unterstützung der Sowjetischen Militär Administration in Deutschland (SMAD) produziert.

Düster und pessimistisch in seiner Warnung vor einem in den Ruinen weitervegetierenden Nationalsozialismus, vorwiegend in Außenaufnahmen und mit wenigen Mitteln hergestellt, ist die Geschichte eines ehemaligen Unterarztes, den die Kriegserlebnisse quälen und der in der Berliner Trümmerlandschaft jenem Hauptmann wiederbegegnet, der zu Weihnachten 1942 an der Ostfront in Rußland die Erschießung von Frauen und Kindern befahl, auch eine Hommage an den italienischen Neorealismus. In ausdruckstarkem Helldunkel sucht Staudtes Arbeit, wenngleich symbolisch überfrachtet - der empörte Arzt greift zur Pistole, doch seine Geliebte, eine Verfolgte des NS-Regimes, hält ihn vor der Selbstjustiz ab -, als einer von wenigen deutschen "Trümmerfilmen" eine ernsthafte Auseinandersetzung mit Schuld und Gewissen.

Beitrag zum sozialen Realismus

Wolfgang Staudte, am 9. Oktober 1906 in Saarbrücken geboren, begann seine Karriere als Regisseur in den dreißiger Jahren. Nach einer Theaterausbildung bei Max Reinhardt und Erwin Piscator trat er 1940 in Veit Harlans Propaganda-Film "Jud Süß" als Schauspieler auf. Bereits seine erste Regiearbeit "Akrobat schööön" mit dem berühmten Clown Charlie Rivel wurde ein großer Erfolg, doch wurde ein weiterer Film Staudtes, "Der Mann, dem man den Namen stahl", 1944 von den Machthabern verboten.

Nach Kriegsende widmete man sich in der Ostzone hauptsächlich politischen Themen im Sinne eines sozialen Realismus. Staudte, der bereits vor der Gründung der DEFA in Eigeninitiative tätig geworden war, leistete hierzu einen wesentlichen Beitrag. Seine Verfilmung von Heinrich Manns "Der Untertan", eine glänzende Satire mit Werner Peters als servilem Bourgeois der Kaiserzeit, der in einer Kleinstadt schon früh die Erfahrung macht, daß es besser ist, sich jeder Form von Macht zu beugen und ihr zu dienen, und ein Leben in Anpassung und Doppelmoral wählt, ist zwar ein scharfer politischer Angriff auf den alten Preußengeist, prangert jedoch unter dem Deckmantel des historischen Rückblicks jede Art staatlicher Totalität an. Natürlich sind Menschen und Situationen satirisch überzeichnet und die Darstellung der Arbeiter und Sozialdemokraten pathetisch stark überhöht. Dennoch ist "Der Untertan" eine faszinierende Charakterstudie über Opportunismus, Mitläufertum und Karrieresucht.

Kurz nach Staudtes Wechsel in die Bundesrepublik holte ihn ein holländischer Produzent in die Niederlande. "Ciske - ein Kind braucht Liebe", nach einem sehr populären holländischen Roman gedreht, erhielt in Venedig einen Silbernen Löwen. Ein seltenes Beispiele einer kritischen Thematisierung der nationalsozialistischen Vergangenheit im deutschen Spielfilm der fünfziger Jahre war Staudtes "Rosen für den Staatsanwalt". Die Geschichte eines wegen einer Lappalie kurz vor Kriegsende zum Tode verurteilten jungen Wehrmachtssoldaten, der nur durch einen Zufall gerettet wird und zehn Jahre später als Straßenhändler seinem Richter in einer westdeutschen Großstadt erneut begegnet, erzählt Staudte mit bitterer Ironie. Das tragikomische Duell zwischen dem bornierten Juristen (brillant: Martin Held) und dem armen Schlucker (Walter Giller) ist - obwohl von zahlreichen Konzessionen ans Kino jener Jahre geprägt - von scharfer Treffsicherheit. Als "üble Nestbeschmutzung" wurde auch die deutsch-jugoslawische Koproduktion "Herrenpartie" diffamiert. Doch wird hier immerhin der Konflikt zwischen den kurzbehosten Mitgliedern eines deutschen Gesangsvereins und den Frauen eines serbischen Dorfes durch die Jugend in beiden Lagern versöhnlich beendet. Zwischen politischer Satire und Schicksalstragödie pendelnd setzt sich der Film mit der unbewältigten Vergangenheit beider Völker auseinander und findet gerade dadurch einen verbindenden Akzent.

Von seinem Zorn und seiner Trauer war wenig geblieben

In den sechziger Jahren galt Staudte nach dem Oberhausener Manifest nicht mehr als zeitgemäß. Seine Neuverfilmung von Bertolt Brechts und Kurt Weills "Dreigroschenoper" wurde zur aufwendigen, aber unverbindlichen Musical-Unterhaltung, dramaturgisch verfehlt und unsicher inszeniert. "Fluchtweg St.Pauli - Großalarm für die Davidswache", ein Anfang der siebziger Jahre gedrehter Hintertreppen-Krimi, in dem sich inhaltliche und formale Klischees treffen, ist schließlich Staudtes intellektueller Abgesang. Von seinem Zorn und seiner Trauer über die gesellschaftlichen Mißstände war außer handwerklicher Routine nichts mehr übriggeblieben.

Hauptsächlich arbeitete er jetzt für das Fernsehen und inszenierte zahlreiche Folgen für die Krimiserien "Tatort" und "Der Kommissar" und die erfolgreiche mehrteilige Fernsehverfilmung von Jack Londons berühmtem Roman "Der Seewolf". Der Zusammenprall zwischen dem brutalen, satanisch-bösen Übermenschen und dem idealistisch-geistigen Schriftsteller, den London geistig und dramatisch auszuloten versteht, geriet jedoch in Staudtes Inszenierung zu einem kraft- und spannungslosen Duell ohne sonderliche visuelle Einfälle.

Auch seine letzte Kinoregie "Zwischengleis", die Geschichte einer jungen Frau, die Selbstmord begeht, weil sie sich am Tod eines kleinen Jungen auf der gemeinsamen Flucht in den frühen deutschen Nachkriegsjahren schuldig fühlte, blieb merkwürdig unpersönlich und ohne innere Anteilnahme am Schicksal seiner Protagonisten.

Bei Dreharbeiten im slowenischen Zigarski starb Wolfgang Staudte am 19. Januar 1984 im Alter von 77 Jahren. Nur wenige Wochen nach seinem Tod wurde ihm postum der Helmut-Käutner-Preis verliehen.

Foto: Hildegard Knef und Ernst Wilhelm Borchert in dem Staudte-Film "Die Mörder sind unter uns" (1946): Ausdrucksstarkes Helldunkel


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